Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Schönheit gehe!
Doch ich habe tiefen Willen,
daß ich einst dich wiedersehe.
Anmutiger Vertrag
Auf der Bank im Walde
haben sich gestern zwei geküßt.
Heute kommt die Nachtigall
und holt sich, was geblieben ist.
Das Mädchen hat beim Scheiden
die Zöpfe neu sich aufgesteckt ...
Ei, wie viel blonde Seide da
die Nachtigall entdeckt!
Den Schnabel voller Fäden,
kehrt Nachtigall nach Haus
und legt das zarte Nestchen
Mit ihrem Golde aus.
Freund Nachtigall, Freund Nachtigall,
so bleib's in allen Jahren! –:
Mir werd ein Schnäblein voll Gesang,
dir eins voll Liebchens Haaren!
Die beiden Nonnen
Ich müßt' es malen, solltet ihr sie sehen,
wie ich sie sah, die beiden schwarzen Schwestern –:
Allein sich glaubend im beschneiten Walde,
der Jugend süße Ungeduld nicht zügelnd,
mit einem Male Menschen, Mädchen, Kinder.
Die Kleider flogen um die leichten Füße,
die Hüften wiegten sich, und jubelnd jagten
sie sich mit weißen Bällen durch die Bäume ...
Ein schwerer Ast begrub sie fast in Flocken ...
Ein Reh erschreckte sie, – und wie des Schreckens
sich schämend, klatschten toll sie in die Hände ...
Dann stellten sie sich plötzlich gegenüber
und maßen ihre Kraft, die offnen Finger
verstrickend, bis die eine lachend kniete ...
Und fort und fort so heitre Kurzweil treibend,
entschwanden sie dem nicht geahnten Späher,
bis selbst die Stimmen, heller Lieder selig,
im Winterwald sich endlich fern verloren.
Am See
In trüber Schwermut schaut der feuchte Mond
wie ein verweintes Auge durch die Nacht ...
Umrauscht vom eignen Odem schläft der See,
breitausgebettet bis zum fernsten Wald ...
Oft fährt's in Busch und Röhricht schaudernd auf,
wie wenn im Halbschlaf sich ein Seufzer löst ...
Dann wieder Stille, als ob selber Gott
als Alp auf seiner Erde lastete ...
Auf dem Strome
Am Himmel der Wolken
erdunkelnder Kranz.
Auf schauerndem Strome
metallischer Glanz.
Die Wälder zu seiten
so finster und tot.
Und in flüsterndem Gleiten
vorüber mein Boot ...
Ein Schrei aus der Ferne –
dann still wie zuvor.
Wie weit sich von Menschen
mein Leben verlor! ...
Eine Welle läuft leise
schon lang nebenher,
sie denkt wohl, ich reise
hinunter zum Meer ...
Ja, ich reise, ich reise,
weiß selbst nicht, wohin.
Immer weiter und weiter
verlockt mich mein Sinn.
Schon kündet ein Schimmer
vom morgenden Rot, –
und ich treibe noch immer
im flüsternden Boot.
Frage
Wie tief die Wipfel heut erschauern!
Wie Schicksal greift es in mein Herz
und überwältigt mich, zu trauern,
und reift zu altem neuen Schmerz.
Schwermütige Gemälde steigen
zu klagender Musik empor,
und wie sie Jahr um Jahr mir zeigen,
erkenn ich, was ich schon verlor.
Zuletzt in mich zurückgetrieben –
was bleibt mir nun? wem darf ich traun?
Wer wird mein stilles Tagwerk lieben?
Was bürgt mir, nicht umsonst zu baun? ...
Wie tief die Wipfel heut erschauern!
Wie Schicksal greift es in mein Herz
und überwältigt mich, zu trauern,
und reift zu altem neuen Schmerz.
Sehnsucht
Dort unten tief im Dämmer-Grunde,
wo nun so wach die Wasser gehn,
und hier verstreut und da im Bunde
die mondumwobnen Häuser stehn,
dort hast du nun mit all den andern
zur sanften Ruhe dich gelegt,
indes dem Freunde nur im Wandern
das Blut sich minder ruhlos regt ...
Schlaf süß in deinem Silbertale,
mein Dunkelauge, Rätselkind,
gegrüßt von jedem reinen Strahle,
der selig in die Tiefe rinnt!
Schlaf süß! und sieh den Freund im Traume
sich