Betreten verboten!. Inga Jung
was für einen Charakter der Hund hat, wird diese Handlung in ihm mehr oder weniger starke Emotionen hervorrufen und es sollte uns nicht wundern, wenn er nun von uns eine Handlung erwartet (nämlich dass wir den Eindringling wieder hinauskomplimentieren), oder aber er selbst aktiv wird.
Einfach nur dazustehen und nichts zu tun oder womöglich den Menschen, der da wie selbstverständlich die Grenze zum Kernterritorium übertritt, zu begrüßen, ist für einen territorial denkenden Hund keine Option. Ich glaube nicht, dass er sich überhaupt vorstellen kann, dass wir so etwas Verrücktes von ihm erwarten könnten.
Auch innerhalb des Hauses ist wieder jede Tür eine Grenze, und das Durchschreiten der Tür ruft im Hund Alarmbereitschaft hervor; insbesondere dann, wenn der Hund bereits in einem Raum ist und der Besucher ebenfalls diesen Raum betritt.
Weiterhin gibt es noch gedachte Grenzlinien bei bestimmten Arten der Raumaufteilung. Stehen zum Beispiel ein Sofa oder ein Regal mitten im Raum, der Hund liegt dahinter, und ein Besucher kommt hinter der Ecke hervor und läuft in das Blickfeld des Hundes, dann hat der Besucher auch hier wieder eine Grenze übertreten.
Die Umgebung wird auf potenzielle Eindringlinge hin gescannt.
Diese imaginären oder auch deutlich sichtbaren Grenzverläufe zu kennen ist im Zusammenleben mit einem territorial denkenden Hund sehr hilfreich, denn dadurch kann man vorausschauend handeln und schwierige Situationen von vornherein vermeiden.
Grenzlinien und die Positionen im Raum sind für territorial denkende Hunde von großer Bedeutung.
Es ist kaum zu glauben, aber ich habe schon sehr oft erlebt, dass im Zuhause eines territorial motivierten Hundes das Hundebett oder die Box, in der der Hund sich aufhalten sollte, direkt neben einer Durchgangs-Zimmertür stand. Und dann wurde sich gewundert, warum der Hund jeden Besucher, der durch diese Tür kam, in die Hacken biss. Dabei wurde ihm durch die Position seines Liegeplatzes genau diese Torwächterrolle zugeteilt. Er saß wie ein kleiner Wachposten direkt hinter der Tür und lauerte darauf, dass ein Besucher die Grenze übertrat – und das selbstverständlich im festen Glauben, dass seine Menschen ganz genau das auch von ihm erwarteten, denn warum sonst hätten sie ihm diese Position zuteilen sollen?
Die Positionen im Raum sind auch in Bezug auf uns Menschen wichtig. Stellen Sie sich vor, Sie sind mit Ihrem Hund im Garten und ein Fremder kommt an das Tor und macht Anstalten, Ihren Garten zu betreten. Wenn Ihr Hund direkt am Tor bei dem Fremden ist, während Sie noch weit hinten im Garten stehen, wird seine Reaktion auf diesen vermutlich weit heftiger ausfallen, als wenn Sie selbst direkt am Tor stehen und Ihr Hund hinter Ihnen ist. Denn durch Ihre Position direkt vor der „Bedrohung“ signalisieren Sie Ihrem Hund, dass Sie sich selbst um die Gefahrenabwehr kümmern. Ist er hingegen „an vorderster Front“ und Sie im Hintergrund, dann fühlt er sich natürlich zuständig und wird schneller aktiv werden. Ist er von dieser Aufgabe auch noch überfordert, wird seine Reaktion unter Umständen sogar sehr heftig sein. Wie man dieses Wissen um die Bedeutung der Positionen im Raum im Alltag anwendet, bespreche ich noch ausführlicher im Praxisteil.
Immer wieder erlebe ich, dass Menschen jahrelang mit einem territorial denkenden Hund zusammen leben und trotzdem nicht verstehen, wie ihr Hund die Welt sieht. Zum Beispiel erzählte mir einmal eine Bekannte ganz aufgebracht, ihr Australian Shepherd habe nach einem ihrer Besucher geschnappt. Dabei habe sie den Hund doch extra angeleint.
Ich fragte, ob der Besucher denn zum Hund hingegangen sei. Daraufhin meinte sie: „Naja, wir waren draußen am Grillen und da war eine Treppe, über die die Besucher alle rausgehen mussten. An dem Geländer hab ich ihn angebunden.“
Ich kannte den Hund als sehr pflichtbewussten Aufpasser, der seine Wohnung notfalls ernsthaft verteidigen würde. Ich hatte daher meiner Bekannten im Vorfeld empfohlen, ihn nicht frei herumlaufen zu lassen, wenn Besuch kam. Sie hatte aber offenbar nicht den Sinn dahinter verstanden, nämlich dass der Hund auf Abstand zum Besuch gehalten werden sollte. Stattdessen hat sie ihn an der einzigen Engstelle, an der alle Besucher vorbei mussten, angebunden. Was anderes sollte der Hund denn wohl daraus entnehmen als den eindeutigen Auftrag: „Ich soll aufpassen, dass hier niemand vorbeikommt. Ich bin der Wächter der Treppe.“
Ich erzähle das, um darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, sich im Voraus Gedanken darüber zu machen, wo man in Situationen, die schwierig werden könnten, seinen Hund platziert und wie man sich selbst verhält. Dabei muss immer beachtet werden, welche möglichen Aktionen der Menschen oder Hunde, mit denen man es zu tun hat, den eigenen Hund in Alarmbereitschaft versetzen könnten. Auch das kann sehr individuell sein, daher sind eine gute Beobachtung des eigenen Hundes und das Wissen über seine Eigenschaften unerlässlich. Beispielsweise reagieren manche Hunde auf Männer misstrauischer als auf Frauen. Wenn das bei Ihrem Hund der Fall ist, müssen Sie bei Männern eben mehr aufpassen und Ihren Hund gegebenenfalls, je nach Situation, vielleicht auch durch eine Leine sichern. Das Wissen darum, was der Hund als nächstes tun könnte, ist die beste Versicherung gegen unwillkommene Überraschungen. Das erlangen Sie nur, indem Sie immer ein Auge auf Ihren Hund haben und lernen, seine feinen Signale zu deuten, die einer Handlung grundsätzlich vorausgehen. Und wenn es nur ein aufmerksames Aufstellen der Ohren ist – irgendein Signal gibt es immer, man muss es nur sehen.
Eine weitere Grenzlinie ist die Grenze zum Außenterritorium, also in der Regel der Gartenzaun oder die Hecke. Ist keine solch sichtbare Begrenzung vorhanden, gibt es aber auf jeden Fall eine imaginäre Grenze, über deren genauen Verlauf der Hund Bescheid weiß und die er höchstwahrscheinlich auch exakt mit Urin markiert hat. Das Außenterritorium wird von vielen territorial motivierten Hunden vehement verteidigt. Dies führt häufig zu Problemen, wenn Besucher dieses Gebiet durchqueren müssen. Es gibt immer wieder Menschen, die ihr Haus komplett auf allen vier Seiten mit einem Zaun umringt haben und ihren territorial motivierten Hund im Garten frei herumlaufen lassen, und die dann allen Ernstes vom Postboten erwarten, dass dieser durch den Garten mit dem freilaufenden Hund bis zum Haus geht, um dort die Post einzuwerfen. Das ist nicht nur gedankenlos, sondern grob fahrlässig, denn selbstverständlich wird ein pflichtbewusster Hund dieses Verhalten des Postboten keineswegs tolerieren. Es kommt nach wie vor oft in solchen Situationen zu Unfällen, weil die Menschen nicht darüber nachgedacht haben, wie gefährlich diese Situation sein kann.
Ausprägungen von Territorialverhalten und der Faktor Unsicherheit
Territorialverhalten sieht nicht immer gleich aus. Wie genau es sich äußert, hängt vom Charakter und den individuellen Vorerfahrungen eines Hundes ab. In der Verhaltensbiologie unterscheidet man oft grob zwischen zwei Charaktertypen: Typ A und Typ B.
Der A-Typ ist ein aktiver Hund, der immer vorne dabei ist, alles gleich erkunden will, alles als Erster mitbekommen möchte, dabei aber manchmal auch zu vorschnell ist und überstürzt handelt. Dabei verrennt er sich hin und wieder. Als territorial motivierter Hund wird der A-Typ jedes Mal einer der Ersten sein, die am Zaun stehen und die Lage checken.
Der B-Typ hingegen schaut sich das Ganze erst einmal von weitem an. Lebt er mit einem A-Typ zusammen, dann beobachtet er zunächst, was sein Kumpel macht, bevor er sich selbst zu einer Handlung entschließt. Der B-Typ ist insgesamt zurückhaltender und neigt weniger zu überstürzten Aktionen.
Das sind natürlich nur Grundtendenzen, die durch das Umfeld und die Gegebenheiten verwischt werden können. Hat man beispielsweise einen B-Typ, der sich von anderen Hunden leicht zum Mitmachen motivieren lässt, dann kann es sein, dass er im Zusammenleben mit einem A-Typ ebenfalls sofort zum Zaun rennt, wenn dort etwas los ist. Ist aber der A-Typ nicht zu Hause, dann wird der B-Typ im Zweifel vermutlich erst einmal liegen bleiben und die Lage in Ruhe sondieren.
In Bezug auf das Territorialverhalten sind A-Typen tendenziell die Hunde, die um die Ecke geschossen kommen und den Postboten in die Hacken zwicken, während die B-Typen sich langsam annähern, ihm noch ein wenig Gelegenheit zum Rückzug geben und ihm dann erst in aller Ruhe zu verstehen