Betreten verboten!. Inga Jung
man die oben erwähnten Hunderassen mit ein, dann findet man unter den Herdenschutzhunden tendenziell mehr B-Typen, während sich die A-Typen eher unter den kleinen Terriern und einigen Hüte- und Treibhunderassen tummeln.
Nun kommt aber noch ein weiterer Faktor hinzu, der das Verhalten eines territorial motivierten Hundes entscheidend mit beeinflusst: der Faktor Unsicherheit.
Unsicherheit bewirkt, dass der Hund in Situationen, in denen er Entscheidungen treffen muss, aufgeregt ist und sich rasch überfordert fühlt.
Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass alle Reaktionen eines unsicheren, territorial motivierten Hundes auf Besucher oder andere Hunde in seinem Territorium oder Streifgebiet sehr viel heftiger erfolgen als bei einem selbstsicheren Hund. Nehmen wir ein Beispiel, das einem im Alltag sehr häufig begegnet:
Unser territorial motivierter Hund trifft in seinem Streifgebiet einen gleichgeschlechtlichen Artgenossen, der frontal auf ihn zuläuft und ihn direkt ansieht, was unter Hunden als Drohverhalten gewertet werden kann. Unser Hund nimmt diesen Hund als Eindringling in sein Revier wahr, der sich zu allem Überfluss auch noch ziemlich bedrohlich verhält.
Unser Hund ist ein A-Typ. Zudem ist er nicht souverän, sondern sich seiner selbst nicht besonders sicher. Was wird wohl passieren?
Richtig: Unser Hund schießt wild bellend und knurrend mit gesträubtem Nackenfell in Angriffshaltung auf den Gegner los.
Dessen Mensch ist entsetzt, denn sein Hund „wollte doch nur mal guten Tag sagen“. Die bedrohliche Körperhaltung seines Hundes hat er nicht wahrgenommen.
Dass unser Hund von diesem Treffen nicht begeistert war, ist klar, aber warum hat er so heftig reagiert? Weil er sich durch die Anwesenheit und das Auftreten des anderen Hundes provoziert und gleichzeitig überfordert fühlte.
Da er sich in seinem Revier befand, war in seinen Augen das bedrohliche Verhalten des anderen Hundes eine Herausforderung, die er nicht ignorieren durfte. Als A-Typ denkt er nicht lange nach, sondern handelt impulsiv seinen aktuellen Gefühlen entsprechend. Und die Unsicherheit verstärkt seine Reaktion, so dass sie unangemessen heftig ausfällt. Alltag in deutschen Wohngebieten. Und eigentlich halb so wild, durchaus nachvollziehbar und vor allem auch vermeidbar, wenn man um die Hintergründe Bescheid weiß.
Unsichere Hunde fühlen sich schneller unwohl, gestresst und überfordert. Das kann sich unterschiedlich auswirken. Es kann zum Beispiel sein, dass ein territorial motivierter und zugleich unsicherer Hund bereits gelernt hat, mit Besuchern im Haus klarzukommen und sich dann normalerweise auch einigermaßen entspannen kann. Diesmal dauert ein Besuch aber ungewöhnlich lange. Ein Verwandter ist aus weiter Ferne angereist und im Gegensatz zur sonstigen Gewohnheit fährt er nicht nach zwei bis drei Stunden wieder weg, sondern er bleibt über Nacht. Das stresst unseren unsicheren Hund dermaßen, dass er am zweiten Tag nach dem Frühstück plötzlich aufspringt und dem Besucher in die Fersen schnappt, als der auf dem Weg zur Toilette ist.
Unsicherheit und Aufregung führen oft zu besonders heftigen Reaktionen.
Auch wenn ein Hund bereits gelernt hat, mit Besuchersituationen umzugehen, darf man den Druck nicht unterschätzen, der unter Umständen auf ihm lastet, wenn er den Wunsch, den Fremden aus seinem Haus zu vertreiben, für längere Zeit zurückdrängt. Impulskontrolle ist nicht in unendlichem Maße vorhanden, irgendwann ist sie aufgebraucht, und dann kann ein kleiner Auslöser das Fass zum Überlaufen bringen. Da Unsicherheit mit Aufregung einhergeht, ist es leicht verständlich, dass unsichere Hunde hier mehr Schwierigkeiten haben als selbstsichere und in sich ruhende Persönlichkeiten.
Wird aggressives Verhalten besonders schnell und unangemessen heftig gezeigt, dann ist – sofern der Hund körperlich gesund ist – ebenfalls fast immer Unsicherheit mit im Spiel. Unsicheren Hunden kann und sollte man auf jeden Fall helfen, indem man ihnen sowohl Vertrauen in sich selbst vermittelt als auch das Vertrauen in ihre Bezugspersonen und deren Fähigkeiten, sie zu beschützen. Viele der von mir im Praxisteil beschriebenen Tipps sind unter anderem auch gut dafür geeignet, unsicheren Hunden mehr Sicherheit zu geben.
Manchmal liegt, wie oben beschrieben, eine Mischmotivation vor, in dem Sinne, dass der Hund territorial denkt, aber gleichzeitig auch noch unsicher Fremden gegenüber ist. Hier haben wir zwei Motivationen, die beide zum Ziel haben, den Fremden möglichst schnell wieder aus der Wohnung zu vertreiben, und die sich gegenseitig verstärken. Entsprechend heftig fällt in diesen Fällen die Reaktion des Hundes aus. Das gibt es recht häufig.
Hin und wieder sieht es aber auch nur so aus, als sei ein Hund territorial motiviert, und in Wirklichkeit ist ausschließlich die Unsicherheit die Ursache seines Verhaltens. Dies habe ich schon häufig bei Hunden gesehen, die generell, auch draußen auf den Spaziergängen, Fremden gegenüber unsicher waren. Meist weichen diese Hunde auf der Straße fremden Menschen aus oder versuchen alternativ, sie durch Gebell und Scheinangriffe von sich fernzuhalten. Manchmal haben sie auch vor anderen Dingen Angst, die ihnen draußen begegnen, z. B. vor bestimmten Geräuschen, Autos oder anderen Hunden. Die Liste kann unter Umständen lang sein.
Für diese Hunde ist ihr Zuhause ihr sicherer Rückzugsort. Es ist der einzige Ort, an dem sie sich wirklich entspannen, an dem sie schlafen können und sich geborgen fühlen. Es ist der Inbegriff der Sicherheit.
Und nun kommen auf einmal fremde Menschen in diesen intimen Bereich, machen Krach, schauen dem Hund bedrohlich in die Augen, wollen ihn eventuell sogar anfassen … auf einmal fühlt sich der sichere Rückzugsort an wie eine Falle. Für den unsicheren Hund ist das der reinste Horror. Da ist es doch nicht verwunderlich, dass er die Fremden anbellt und zu verscheuchen versucht. Das hat aber in diesem Fall nichts mit Territorialverhalten zu tun, es handelt sich hierbei um reine Selbstverteidigung.
Es ist wichtig zu wissen, was im Hund vorgeht, um die Situation für alle Anwesenden bestmöglich zu gestalten. Habe ich einen unsicheren Hund, der Angst vor Fremden hat, dann ist es zum Beispiel keine gute Idee, den Besucher mit Leckerlis auszustatten und den Hund zu sich locken zu lassen. Das macht ihn in dessen Augen nur noch gruseliger, denn er beschäftigt sich viel zu sehr mit dem unsicheren Hund und widmet ihm zu viel Aufmerksamkeit. Außerdem fühlt der Hund sich vielleicht durch das Futter verführt, viel näher an den gruseligen Menschen heranzugehen als er sich normalerweise trauen würde. Greift der Mensch dann womöglich noch nach dem Hund, um ihn zu streicheln, gerät der Hund völlig in Panik und läuft entweder weg oder geht zum Angriff über.
Besser wäre es für einen solchen Hund, wenn der Fremde ihn überhaupt nicht beachtet und so tut, als sei er gar nicht da. Das gibt dem Hund Sicherheit. Futter, das die Situation durchaus positiv aufwerten kann, kommt ausschließlich von einer Bezugsperson, der der Hund vertraut und bei der er gleichzeitig Schutz suchen kann. Dann wird er sich im Laufe der Zeit beruhigen und vielleicht sogar entspannen können.
In den letzten Jahren begegnen mir vermehrt Hunde, die auf die verschiedensten Alltagssituationen unsicher reagieren. Sehr oft ist dies eine Folge mangelnder positiver Erfahrungen oder Überforderung in der Welpenzeit. Auch eine gestresste Hundemutter überträgt die Stresshormone und ihr unruhiges Verhalten direkt auf ihre Welpen. Die Folge sind Unsicherheit, Ängstlichkeit, aber oft auch Hyperaktivität oder – aus der Selbstverteidigung heraus – plötzliche aggressive Attacken gegen alles, was dem Hund als bedrohlich erscheint.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, darauf im Detail einzugehen. Sollten Sie aber mit einem unsicheren, ängstlichen oder hyperaktiven Hund Ihr Leben teilen, werfen Sie bitte einen Blick in die Buchtipps zum Weiterlesen im Anhang dieses Buches. In der dort aufgelisteten Literatur finden Sie wertvolle Anregungen für das Leben mit solchen Hunden und Praxistipps zur Verbesserung der Situation.
Schnüffeln und Markieren
Für uns Menschen ist es nur ein unschöner gelber Fleck – für den Hund ist eine Urinmarke ein Quell vielfältiger Informationen. Er kann aus so einem bisschen Pipi nicht nur herauslesen, ob da ein Rüde oder eine Hündin war, sondern auch, in welchem aktuellen Hormonstatus dieser Hund sich befindet,