Im Schatten der Titanen. Braun Lily
Inhaltsverzeichnis
Jennys Kindheit
Weimar, das die junge Frau von Pappenheim an der Seite des Gatten, den ältesten Sohn im Arm, in kindlichem Frohsinn verlassen hatte, nahm sechs Jahre später die einsame, gebrochene Frau wieder auf. Der Mann, der schon lange ein geistig Toter war, hatte in Stammen den letzten Atemzug getan, ihre kleinen Söhne waren ihr — auf höheren Familienbeschluß wahrscheinlich — genommen und zu einem Pfarrer in Pension gegeben worden, der am besten geeignet schien, sie vor dem Einfluß der "sündigen" Mutter zu bewahren, nur die kleine Jenny hatte man ihr gelassen. In der Stadt Karl Augusts und Goethes hatte man gelernt, die Liebesbeziehungen der Menschen untereinander mit anderen Augen anzusehen als mit denen der Sittenrichter, darum galt auch Diana hier nicht als Verfemte, sondern als Unglückliche, der Liebe und des Mitleidens ebenso würdig wie bedürftig. Ihre ältere Schwester Isabella, die an den General von Egloffstein verheiratet und Mutter der auch von Goethe oft bewunderten schönen Töchter war, bereitete ihr ein Heim; ihre einstige Herrin, die gütige kluge Erbgroßherzogin Maria Paulowna, empfing sie mit offenen Armen und sorgte dafür, daß auch ihr kleines Töchterchen in Weimar heimisch wurde. Ihre eigenen beiden Töchter, Marie und Augusta, die spätere deutsche Kaiserin, wurden die unzertrennlichen Spielgefährten und lebenslangen treuen Freundinnen der Tochter Dianens. "Als kleines, dreijähriges Mädchen," so erzählt Jenny selbst, "brachte mich meine Mutter zum erstenmal nach Belvedere, dem Sommeraufenthalt Maria Paulownas, um mit den Prinzessinnen zu spielen. Ich war mit Augusta in gleichem Alter und sollte von nun an in fast geschwisterlichem Verhältnis neben ihr aufwachsen. Prinzeß Augusta war ein schönes Kind mit früh entwickeltem, energischem Charakter. Sie hat den Gouvernanten die Erziehung nicht leicht gemacht, und mancher Kinderspiele erinnere ich mich, die nicht ohne Sturm und Tränenregen verliefen, weil sie ihr Trotzköpfchen durchsetzen wollte."
Mit ihr zusammen genoß sie den ersten, bereits in ihrem fünften Jahr begonnenen Unterricht. Es muß ein fröhlicher Wetteifer zwischen den beiden gewesen sein, denn Jenny war ein ungewöhnlich begabtes Kind, und Augusta "zeigte eine eiserne Ausdauer, die durch klaren Kopf und leichte Auffassung unterstützt wurde; sie war wie ein Bienchen, das aus jeder, auch der unscheinbarsten Blüte sich das Süßeste holte.[A]"
[A] Diese Äußerung ist ein Zitat aus den Schriften meiner Großmutter, wie alles, was ich im folgenden ohne weitere Bemerkung unter Anführungszeichen mitteile.
Goethe, der Maria Paulowna, die "Lieblich-Würdige", sehr liebte — "sie ist eine der besten und bedeutendsten Frauen unserer Zeit und würde es sein, auch wenn sie keine Fürstin wäre; denn darauf kommt es an, daß, wenn der Purpur abgelegt wird, das Beste übrigbleibe," sagte er von ihr zu Eckermann — und "etwas Väterliches im Umgang mit ihr hatte," kümmerte sich ernstlich um die Erziehung ihrer Kinder, und sie, die "in ihrem bewundernden Aufschauen zu ihm die Rolle einer Tochter übernahm", richtete sich darin ganz nach seinem Rat. Dadurch kam auch Jenny vom ersten Augenblick des bewußten geistigen Erwachens unter seinen Einfluß, und es war die Atmosphäre seines Geistes, in der sie aufwuchs. Für sie selbst galt mit, was sie in Erinnerung an diese frühe Zeit von Goethes Verhältnis zu Karl Augusts Enkeln berichtete: "Er war leicht steif und zugeknöpft, aber niemals ihnen gegenüber. Kamen sie zu ihm, was häufig geschah, so hatte er immer neue, interessante Dinge zu zeigen und zu erklären: den Kindern Bilder und geschnittene Steine, den Heranwachsenden Bücher und Kunstwerke. Rührend war es, wie er auch für das körperliche Wohl der Kinder besorgt war, wie er sich der Ausführung seines Planes, den Griesebachschen Garten für sie zum Tummelplatz zu kaufen, freute."
Auch Karl August und Luise traten in den intimeren Gesichtskreis des Kindes. "In meiner frühsten Jugend," so schreibt sie, "hat mir niemand mehr imponiert als die Großherzogin Luise, Karl Augusts Gemahlin. Sie war ernst, ruhig, fürstlich, von einer Würde der Erscheinung, die sich auch im Äußeren kundgab. Als sie es lästig und unangemessen fand, sich noch Toilettengedanken zu machen, blieb sie bei einer bestimmten, ihr zusagenden Mode: unter der lichten, krausen Blondenmütze einen Kranz von weißen Löckchen um die Stirn: ein dunkles, einfarbiges, ungemustertes, schwerseidenes Kleid, vorn bis zur Taille herunter ein anliegendes, garniertes Blondentuch, halblange Puffärmel mit Handschuhen bis zur untersten Puffe, das Kleid faltig, lang, hinten etwas schleppend, dazu die edle Haltung, die klangvolle tiefe Stimme — so trat sie in den zu ihr geladenen Kinderkreis und freute sich an den Spielen ihrer Enkelinnen, der Prinzessinnen Marie und Augusta. So hat sich mir ihr Bild eingeprägt, so malte sie auch ihre Hofdame, Julie von Egloffstein.
"Wenn sie und Karl August zusammen erschienen, konnte man sich keinen schärferen Gegensatz denken: die ernste Fürstin mit dem durchdringenden Blick, dem trotz aller echten Weiblichkeit strengen Urteil, der ruhigen Sprechweise, der entschiedenen Abneigung gegen alles, was nur im entferntesten an Frivolität streifte, und der kleine, über das ganze runde Gesicht immer freundlich lächelnde Großherzog, dessen Witze leicht etwas derb, dessen Schmeicheleien leicht etwas grobkörnig sein konnten. Als beide jung waren, mag dieser Gegensatz empfindlich gewesen sein, im Alter störte er nicht mehr, auch hatte die treue, aufopferungsvolle Liebe der Großherzogin für den Gatten jede Kluft zu überbrücken vermocht. Er zollte ihr dagegen eine unbegrenzte Hochachtung, ein schrankenloses Vertrauen. Was sie gegenseitig am festesten verbunden hat, war ihre Vaterlandsliebe. Man hat Karl August als Mäcen gefeiert und hätte ihn doch noch mehr als Landesherrn feiern sollen. Sein klarer Blick schien selbst die Zukunft zu durchdringen, die politischen Verhältnisse vorherzusehen; aber er ging nicht nur ins Große, er sah auch das Kleine, das Kleinste und fand überall und immer in Luisen die beste, verständnisvollste Unterstützung. Wie sie Napoleon begegnete, weiß die Weltgeschichte; wie sie im stillen für die Armen im Lande sorgte, weiß das Volk; wie sie uns Kindern eine mütterliche Fürstin war, das wissen ihre Enkel, das weiß auch ich. Sie blieb mir aber immer, so oft ich sie sah, die Großherzogin, denn 'eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit'. Oft erzog ein Blick von ihr uns mehr als eine Strafe unserer Erzieherinnen, und ein kleines Geschenk aus ihrer Hand wurde mit mehr Ehrfurcht betrachtet als die größte Bonbonniere von Karl August, der mit uns scherzte und lachte und es gar nicht liebte, wenn 'die Frauenzimmerchen zimperlich taten', sondern gern fröhliche, auch kecke Antworten hörte."
Von nachhaltigem Einfluß auf Jennys geistige Entwicklung sollte der Mann werden, dem ihre Mutter im Jahre 1817 die Hand zum zweiten Ehebunde reichte: Ernst August von Gersdorff.[62] Seit langem im weimarischen Dienst, hatte ihn der Herzog, als Probe auf seine Befähigung, mit seiner Vollmacht am Wiener Kongreß teilnehmen lassen, und er hat diese Probe, zu der ihn Goethe mit den Abschiedsworten entließ: "Der Herzog und das weimarische Volk verdienen es, daß ein Mann wie Sie Gut und Blut, Gedanken und Tatkraft für ihre Sache einsetzt,"[63] glänzend bestanden. Mit scharfem Blick hatte er nicht nur die Disposition zu dieser "großen Komödie" erkannt, sondern auch die Absichten ihres Regissieurs Metternich durchschaut. Er erreichte alles, was für Sachsen-Weimar zu erreichen war: die Abtretung eines bedeutenden Gebiets durch Preußen und die großherzogliche Würde für das Herrscherhaus. Sein größtes Verdienst aber erwarb er sich nach seiner Rückkehr und seiner Ernennung zum Minister, indem er Karl Augusts Absicht, seinem Lande — im Gegensatz zu allen anderen deutschen Fürsten — eine Verfassung geben zu wollen, auf das lebhafteste unterstützte. Gersdorffs Energie und liberaler Gesinnung, seiner Unabhängigkeit von den reaktionären Gelüsten eines Metternich und Genossen war es vor allem zu danken, daß der Verfassungsentwurf in wenig Wochen durchgearbeitet, von der Regierung geprüft und vollzogen, daß die Freiheit der Presse innerhalb der Landesgrenzen gesichert und, zum erstenmal in Deutschland, eine allgemeine Einkommensteuer ins Leben gerufen wurde. Wenn er sich so durch seine politische Tätigkeit als ein für seine Zeit und seinen Stand ungewöhnlich aufgeklärter Mann erwies, so zeigte er sich durch seine literarischen und künstlerischen Interessen als echter Bürger Weimars. Ein gründlicher Kenner der griechischen Dichter und Philosophen,