Das falsche Paradies. Stefan Bouxsein

Das falsche Paradies - Stefan  Bouxsein


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Haupteingang.« Steffen legte wieder auf, ohne auf eine Antwort von Till zu warten.

      Zwei Minuten später verließ Till seine Drei-Zimmer-Eigentumswohnung und holte seine Honda Gold Wing GL 1500 SE aus der Garage. Einen Traum, den er sich erst im letzten Jahr erfüllt hatte. Er bestieg die über vierhundert Kilogramm schwere Maschine, betätigte den Starter und schwebte wie ein König auf zwei Rädern über die Ludwig-Landmann-Straße in Richtung Brentano-Bad. Der Sound des Motors vermischte sich mit den Klängen von Hells Bells, AC/DC ertönte aus den integrierten Lautsprechern. Till wäre jetzt gerne stundenlang weitergefahren, doch bis zum Brentano-Bad waren es nur zwei Kilometer. Er wechselte im Kreisverkehr am Fischstein auf die gegenüberliegende Fahrbahn und bog gleich darauf rechts ab, zum Haupteingang von Frankfurts größtem Freibad.

      Steffen Siebels wartete schon am Kassenhäuschen auf ihn. Neben Siebels standen zwei weitere Männer. Der eine war in seiner weißen Bekleidung unschwer als Bademeister auszumachen, der andere hatte eine Kamera umhängen. Till und Steffen schüttelten sich die Hände, anschließend begrüßte Till die anderen beiden Männer. Steffen Siebels stellte sie ihm vor.

      »Das ist Lutz Neumann, Herr Neumann ist der leitende Bademeister, die Kollegen von der Streife haben ihn vor einer halben Stunde verständigt. Die Kollegen sind übrigens schon im Bad bei der Leiche. Und dieser Herr hat die Tote gefunden und auch gleich fotografiert.«

      »Guten Morgen, Sven Fischer ist mein Name, ich arbeite als freier Journalist und habe einen anonymen Hinweis erhalten. Daraufhin bin ich um 5:30 Uhr heute früh über das Eingangstor geklettert und habe auf der Liegewiese die Frau gefunden, Sie werden ja gleich sehen.«

      Neumann, der Bademeister, führte die vier Männer zunächst über die große Ballsport-Wiese, vorbei an der riesigen Leinwand.

      »War gestern Abend eine Vorstellung im Open-Air-Kino?«, erkundigte sich Steffen Siebels beim Bademeister.

      »Ja, es lief STAR WARS, die zweite Episode. Das war die letzte Vorführung für diese Saison.«

      Im Sommer lief auf der Ballsportwiese im Schwimmbad das Open-Air-Kino-Programm. Die Kinobesucher machten es sich mit Decken oder Stühlen auf der Wiese bequem und verfolgten in heißen Sommernächten alte Kinoklassiker oder aktuelle Filme auf der Leinwand.

      »Wissen Sie, wie viele Besucher die Vorstellung besucht haben?«, erkundigte sich Siebels. Die vier Männer gingen gerade am Planschbecken für die Kleinkinder vorbei, bis zum Tatort waren es noch ungefähr zweihundert Meter.

      »Nein, das kann ich nicht sagen, aber da es gestern Abend sehr warm war, bestimmt noch über 23 ºC nach 22:00 Uhr und der Film sehr beliebt ist, würde ich vermuten, dass mindestens fünfhundert Leute den Film gesehen haben.«

      Die vier Männer erreichten die große Liegewiese, die sich um das ovale dreihundert Meter große Schwimmbecken dehnte. Neben der Rutsche auf der rechten Seite des Wasserbeckens konnte Till jetzt die zwei Kollegen von der Streife ausmachen.

      »Wie haben Sie denn den anonymen Hinweis erhalten?«, fragte Till den freien Journalisten Sven Fischer.

      »Es war heute Morgen, so gegen 5:00 Uhr. Ich lag im Bett, schlief noch fest, als mein Handy läutete. Es dauerte eine Weile, bis ich es registrierte. Ich war immer noch ziemlich verschlafen, als ich mich endlich meldete. Es war ein Mann. Er sprach mit verstellter Stimme. Auf der Liegewiese im Brentano-Bad liegt eine Story, beeil dich, dann hast du sie exklusiv. Ein Freund. Das waren seine Worte. Ich bin sofort hierhergefahren, über das Tor geklettert und habe sie hier gefunden, so, wie sie jetzt da liegt. Ich habe ein paar Fotos geschossen und dann per Handy über Notruf die Polizei gerufen. Und nun sind Sie hier.«

      Die vier Männer standen vor der Leiche. Till begrüßte die Kollegen von der Streife, die er noch aus früheren Tagen gut kannte.

      Till Krüger ging direkt nach dem Abitur auf die Verwaltungsfachhochschule der Polizei und wurde Jahrgangsbester, ohne sich dafür großartig anstrengen zu müssen. Anschließend verbrachte er drei Jahre als Kommissar bei der Bereitschaftspolizei, die meiste Zeit davon im Bahnhofsviertel. Im Gegensatz zu seinen Kollegen fand er die Arbeit im Stadtkern, wo die Kriminalitätsrate am höchsten ist, immer spannend und abwechslungsreich. Prostitution, Drogendealer, Hütchenspieler, illegale Einwanderer. Ihn faszinierten dieses Bild der Stadt und die Geschichte der Menschen, die sich hinter diesem Bild verbargen. Gleichzeitig nahm er einige Fortbildungskurse der Polizei in Anspruch, hauptsächlich in der Kriminalitätsbekämpfung, aber auch im Bereich Sport/Schießausbildung. Bei einer Razzia in einem illegalen Spielclub im Bahnhofsviertel machte er dann auf sich aufmerksam, als er zwei flüchtige Kosovo-Albaner durch das gesamte Viertel verfolgte und sie schließlich am Mainufer stellte, ohne bei dieser Aktion unbeteiligte Passanten zu gefährden. In seinen Beurteilungen wurde er als stressresistent und draufgängerisch beschrieben. Er galt als ehrgeizig und war ein ausgezeichneter Sportler und Schütze. Sein ausgeprägter Sinn für Humor hatte ihm allerdings schon so manchen Ärger eingebracht, die Aktion auf dem Schießstand war kein Einzelfall. Polizeihauptkommissar Steffen Siebels suchte zu dieser Zeit einen neuen Mitarbeiter, er wurde auf Till aufmerksam und holte ihn zu sich. Seit zwei Jahren arbeiteten sie nun als harmonisches Team bei der Kriminaldirektion K11. Das K11 befasste sich mit Tötungsdelikten, Leichen- und Vermisstensachen. Till wurde zum Polizeioberkommissar befördert, die Aufklärungsquote der beiden gehörte zu den höchsten in ganz Deutschland.

      Das beste Team vom K11, Steffen Siebels und Till Krüger, stand nun vor der Leiche im Brentano-Bad. Sie lag auf dem Bauch, keine Blutspuren, keine Wunden. Sie war vielleicht Mitte zwanzig. Bildhübsch, eine Figur, mit der sie als Model Karriere hätte machen können. Die hellblonden Haare reichten bis knapp über die Schultern. Sie war nur mit einem Bikini-Höschen bekleidet und das war ihr bis zu den Kniekehlen heruntergezogen. Etwa einen Meter neben ihr lag das dazugehörige Oberteil. Sie lag im Schatten unter der alten Linde. Es sah aus, als würde sie schlafen.

      »Das ist also die Story«, Till deutete auf den Rücken der toten Frau. »Ich bin eine kleine geile Schlampe«, stand mit roten Buchstaben auf ihrer Haut geschrieben.

      »Na wunderbar«, seufzte Steffen Siebels. »Da war wohl einer nicht gut zu sprechen auf die junge Dame.«

      Till sah sich die nähere Umgebung an. »Nichts als grüne Wiese. Keine Tasche, keine Schlüssel, keine Klamotten, rein gar nichts – nur ein halbnacktes totes Mädchen mit einer nicht sehr netten Botschaft auf dem Rücken. Und irgendjemand scheint das für eine tolle Story zu halten.«

      »Dahinten kommen die Kollegen von der Spurensicherung und der Doc ist auch dabei«, Steffen Siebels deutete mit dem Finger in die Richtung der Truppe, die sich ihnen näherte.

      Fünf Minuten später untersuchte der Polizeiarzt die Leiche, das Team von der Spurensicherung nahm den Tatort in Augenschein.

      »Können Sie schon eine erste Angabe zum Todeszeitpunkt machen?«

      Siebels schaute den Polizeiarzt Doktor Petri hoffnungsvoll an. Petri schaute auf seine Uhr. »Jetzt ist es 7:30 Uhr, ich würde sagen so zwischen 3:00 und 4:00 Uhr heute Morgen. Aber viel länger als drei bis fünf Stunden ist der Todeszeitpunkt noch nicht her. Sie wurde wahrscheinlich erwürgt. Schauen Sie hier. Sie hat Würgespuren am Hals und Punktblutungen im Gesichtsbereich. Sehen Sie die Punkte, insbesondere um die Augenregion, das ist ein sicheres Zeichen für einen Erstickungstod. So wie die Würgespuren ausgeprägt sind, würde ich vermuten, dass der Täter hinter ihr stand, als er sie würgte. Aber Genaueres erfahren Sie spätestens morgen aus dem Obduktionsbericht. Ich werde veranlassen, dass die Leiche in die Gerichtsmedizin kommt, das ist doch wunderschönes Anschauungsmaterial für unsere Studenten. Einfach wunderbar ausgebildet, diese Tardieu’schen Flecken, finden Sie nicht?«

      Der Arzt deutete auf die Verfärbungen im Gesicht der Toten. Siebels zündete sich eine Zigarette an. So früh am Morgen hatte er noch keinen Sinn für den Humor von dem alten Doktor Petri.

      Petri betrachtete sich die roten Buchstaben auf dem Rücken der Toten. »Vermutlich mit Lippenstift geschrieben«, murmelte er vor sich hin.

      »Sind Sie sicher?« Siebels kniete sich neben Petri und begutachtete die rötlich schimmernden Buchstaben auf der kalten Haut.


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