Seegeschichte-Sammelband: Die Abenteuer berühmter Seehelden, Epische Seeschlachten & Erzählungen. Heinrich Smidt
mehr, als der Frost. Und doch fror mich sehr, denn ich hatte nur dürftiges Stroh zum Lager. Meine Kleidung war auf der langen Wanderung zerrissen und keine Decke hatten sie mir hingelegt, um die erstarrten Glieder darin zu hüllen. Da einmal, als der Schieber in der Tür sich öffnete und der Wasserkrug hineingereicht wurde, überwand ich mich und rief um Erbarmen. Bisher war mein Kerkermeister stumm gewesen. Nie vernahm ich einen Ton. Auch jetzt folgte keine Antwort, sondern nur ein heiseres Lachen, das mir durch Mark und Beine fuhr. Ich kannte dieses Lachen. Es gehörte der Altmagd Martha, einer der Bauernmägde, die voll Grimm für mich erfüllt war und mich haßte, weil ich einmal im jugendlichen Uebermut sie um ihrer Häßlichkeit willen verspottete. Ich, die schöne Christine, nannte das Scheusal einen häßlichen Drachen. Ich nannte sie einen Mistkäfer, der sich auf eine Rose zu setzen wagte. Sie trug es mir nach und jenes Lachen sagte mir, daß sie es noch nicht vergessen hatte. Jetzt schwand die letzte Hoffnung. Ich bat Gott um die Gnade, mich sterben zu lassen. Ich wollte keine Freiheit, kein Leben, nur den Tod.«
»Ich fühle es mit Ihr, daß man in solcher Lage nach dem Tode rufen kann!« sagte Jungfer Mewes bewegt.
»Mit Seelenangst rief ich den Tod, allein er kam nicht. Vielmehr regte sich ein neues, junges Leben in mir. Ich will es Ihr nicht beschreiben, was ich nun empfand. Ich kann es auch nicht, denn ich erinnere mich an nichts, was in jenen entsetzlichen Stunden mit mir vorging. Ich weiß nur, daß ich aus einem dumpfen Traum zu unsäglichen Schmerzen aufschreckte und ein neugebornes Kindlein in meinen Händen hielt.«
»Allmächtiger Gott!« schrie Jungfer Mewes auf.
»Das rief ich auch und war nahe daran, den Verstand zu verlieren, als das arme Geschöpf schrie und mit seinen Klagetönen mein Herz zerriß. Wüste Gedanken erwachten, vor denen ich erbebte. Da rüttelte es an der Tür und die widerliche Stimme der Altmagd fragte: »Was ist da drinnen los, Sie garstige Person?« Es war um die Zeit, da man mir mein Brot und meinen Wasserkrug zu bringen pflegte und sie hatte bei dem Oeffnen des Schiebers das Wimmern des Kindes vernommen. Ich rang nach einer Antwort; umsonst. Die Worte wollten nicht über die Zunge. Sie wartete auch meine Antwort gar nicht ab, sondern entfernte sich, so schnell sie konnte, nicht langsam und gemessen, wie sonst geschah, um mich mit ihrem schlürfenden Gang zu höhnen; denn so lange ich sie hörte, regte sich immer etwas, wie ein banges Hoffen in mir, sie könne umkehren und mich erlösen. Erst wenn es wieder ganz still war, kehrte die düstere Verzweiflung zurück.«
Jungfer Mewes sagte nichts. Aber die Furcht malte sich in ihren Zügen und mit Beben sah sie auf die bleiche Frau am Herdfeuer.
»Nun weiß ich nichts Gewisses mehr,« fuhr jene nach einer Pause fort. »Ich erinnere mich nur noch dunkel, daß es um mich summte, wie ein verworrenes Gespräch, doch habe ich kein Wort davon behalten. Ich habe es vor meinen trüben Augen flimmern sehen, wie Licht, allein es schwand wie ein Blitz und war dann dunkler als zuvor. Als ich mein Bewußtsein wieder erhielt, fand ich mich auf einem Bette wieder. Es war derselbe dunkle Keller, in welchem ich atmete, allein die Barmherzigkeit hatte mir dies Lager gegönnt und ich war von dieser einen Wohltat so erfüllt, daß ich meine Peiniger segnete. Aber mit dem Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung wieder und mit dem Schrei: »Mein Kind! Mein Kind!« stürzte ich gegen die Tür. Hatte mein Kerkermeister auf diesen Schrei gewartet oder war es Zufall, daß sie gerade gegenwärtig war. Die Martha beantwortete mein verzweiflungsvolles Rufen mit ihrem teuflischen Lachen und sagte: »Dein Kind ist dir genommen und soll in der Furcht des Herrn, in Gebet und Armut auferzogen werden, um die Sünden der Mutter. Du wirst es niemals wiedersehen.«
»Das ist schrecklich! Was hat Sie Aermste erdulden müssen!«
»Keine Zunge mag es verkünden, auch die meinige nicht. Die Schreckensworte jenes Weibes klingen noch immer in meinem Herzen wider. Es waren zugleich die letzten, welche ich von ihr vernahm. Auch weiß ich sonst nichts von mir zu sagen. Ich war stumpf geworden und vermochte nichts zu denken, noch zu tun. So gewohnt war ich meine tödliche Einsamkeit, daß ich vor Schreck zusammenfuhr, als eines Tages der Schieber sich öffnete und eine Stimme, die mir fremd erklang, rief: »Ist noch ein lebendes Wesen hier, oder komme ich zu spät?«
»Der Rettungsengel!« rief Jungfer Mewes laut auf.
»Die böse Martha war plötzlich gestorben. Der Schlag hatte sie gerührt. Sie hatte eine Verwandte in das Haus gebracht und sie unter Vorspiegelung großen Lohnes zu ihrer Gehilfin abgerichtet. Die junge Dirne war schlau und gelangte in den Besitz des Geheimnisses. Ihr redliches Herz empörte sich, allein sie schwieg, um desto sicherer einer Unglücklichen beizustehen. Da trat der Todesfall ein und mein entsetzliches Los wendete sich. Die junge Magd setzte sich zu mir nieder und erzählte mir alles. Sie brachte mir nahrhafte Speise und trug mir alte Kleider zu, um meine Blöße zu decken. Ich küßte weinend ihre Hände und fragte mit unterdrücktem Schluchzen nach meinem Kinde. Sie wußte nichts davon. Es war wieder die alte Nacht. Da öffnete sich nach einiger Zeit die Tür meines Gefängnisses. Meine Retterin erschien und flüsterte mir zu: »Die Stunde der Vergeltung bricht an. Eure Muhme, die Frau Janna Straußin ringt mit dem Tode, aber sie kann nicht sterben. Das böse Gewissen martert sie. Geht hinauf zu ihr und predigt ihr Buße. Der Weg ist frei.« Ich erhob mich und stand auf meinen Füßen. Sie schmerzten, so wenig waren sie gewöhnt, die geringe Last zu tragen. Auf der Treppe war die Lampe stehen geblieben. Ich folgte ihrem Schimmer und stieg mit unsäglicher Mühe hinauf. Als das volle Licht des Tages meine Augen traf, stand ich, wie geblendet. Ich erkannte die große Diele, an deren Ende die Schenkstube lag, wo die Biergäste verkehrten. Mein Erscheinen rief ein allgemeines Erschrecken hervor. Man floh vor mir und weckte mit wüstem Geschrei die Aufmerksamkeit der andern. Keiner wagte es, mich anzurühren, allein mit einer Mischung von Furcht und Neugier folgten sie mir, als ich die Treppe hinaufging. Ich hatte mich wiedergefunden und wußte, wohin ich mich wenden müsse, um zu meiner Quälerin zu gelangen. Die Magd, welche mir zur Freiheit verholfen, stand vor ihrer Tür. Sie öffnete diese und entfernte sich, ohne die Leute, welche mir gefolgt waren, zurückzuweisen. Da lag das böse Weib, bleich, abgezehrt, vom Fieber geschüttelt. Die Krankheit hatte den bösen Zug, der ihr Inneres widerspiegelte, nicht aus dem Gesicht getilgt; er trat nur noch schärfer hervor. Sie fuhr bei meinem Eintritt auf und rief:
»Wer ist da?«
»Ich bin es! Christine Ramke, deines jüngern Bruders Kind, die du verderbt hast und die jetzt erscheint, um Rechenschaft zu fordern.«
»Hilfe! Hilfe!« schrie sie laut auf.
»Hier ist niemand, der dir zu Hilfe kommt,« entgegnete ich. »Dein Verbrechen ist so groß, daß keiner Erbarmen mit dir hat und dir eine helfende Hand reicht.«
»Willst du mich töten?« fragte sie erschreckt und hüllte sich in ihre Decke.
»Ich will dich anklagen vor Gott und Menschen, daß du mir ein ganzes Leben gestohlen hast und mich in dunkler Haft gefangen hieltest, ich weiß nicht, wie lange. Du hast mich in der Blüte der Jugend gemordet, hast mir ein ganzes reiches Leben gestohlen und das Pfand einer Ehe, die du gewaltsam trenntest, von meinem Herzen gerissen.«
Frau Janna Straußin seufzte schwer und suchte sich mit Gewalt aufzurichten, oder doch ihr Gesicht von mir abzuwenden, allein es wollte ihr nicht gelingen. Sie stierte mich mit ihren glanzlosen Augen an und ich rief ihr zu:
»Wo hast du meinen Gatten hingelockt und in welcher Hölle schmachtet er? Sage es, damit ich eile, ihn daraus zu erlösen.«
Sie blieb stumm. Der Schrecken der ersten Ueberraschung wich und die Heimtücke, die dieses Weib erfüllte, malte sich auf ihrem Gesicht:
»Dein Buhle ist tot!« rief sie mir zu. »Erst wenn du ihm folgst, ist die Familienschande begraben.«
Mir aber war es, als rufe eine Stimme laut und vernehmlich in mir: »Dein Kind! Unglückliche Mutter, wo ist dein Kind!« Und diese Worte mit steigender Angst wiederholend, stürzte ich mich auf das mich in meinem Jammer höhnende Weib, ich faßte sie mit beiden Händen und wiederholte den Ruf: »Wo ist mein Kind? Wo hast du es gelassen?«
Sie stöhnte unter meinem Druck. Die Hausleute, welche mir folgten, fürchteten das Entsetzlichste. Sie rissen uns auseinander. Meine Kraft, die ich im vorhergehenden Augenblick auf das Aeußerste anspannte, verließ