Seegeschichte-Sammelband: Die Abenteuer berühmter Seehelden, Epische Seeschlachten & Erzählungen. Heinrich Smidt
zu machen. Den kargen Zahler ermunterte er durch einen derben Schlag zum Mehrzahlen, dem splendiden gab er einen gleich aus Dankbarkeit. Es gehörte eine Gewandtheit und eine Keckheit dazu, um dieses Amt zu verwalten, die nicht jedermanns Sache war, und es galt als die bedeutendste Vorbereitung zu dem Feste von »Schewe-Lieke«, aus der Menge der Seiler- und Radjungen den geeigneten Vertreter zu finden.
Auch dieses Mal wurde der wichtige Umstand reiflich erwogen. Je gewandter der Sammelbursche war, je reichlicher strömten die Schillinge in die Büchse und je voller diese, womöglich bis zum Rande, wurde, je üppiger konnte die Bewirtung ausfallen, die aus diesen Erträgnissen bestritten wurde.
»Ich meine,« sagte der Bahnmeister bedächtig, indem er den Finger an die Nase legte, »daß es gut getan sei, dem Jan Blaufink die Büchse zu geben. Er schlägt nicht so stark zu, wie die anderen klobigen Burschen, und hat den Hanswurst noch vom Theater her in dem Kopf. Das ermuntert die Leute zum Lachen und fröhliche Leute mögen auch, daß die anderen fröhlich sind, darum geben sie doppelt und dreifach. Habe es seinerzeit gehabt, daß mir ein alter, lachender Herr ein blankes Vierschillingsstück in die Hand steckte.«
»Dann hattet Ihr auch wohl ein Stück von einem Hanswurst im Kopfe, Bahnmeister?« fragte einer der älteren Seilerknechte und jener erwiderte gutmütig:
»Hatte ihn. Bald nachher schickten sie mich an Bord eines Grönlandfahrers, denn ich wollte am Lande nicht gut tun; da ist denn bei Spitzbergen der Hanswurst in mir erfroren und nicht wieder lebendig geworden. Von toten Leuten aber tut man am besten, nicht weiter zu reden, das merke dir.«
»Habe es mir schon gemerkt,« entgegnete der Seilerknecht. »Und aus diesem Grunde ist es mir und den anderen recht, wenn Ihr dem Jan Blaufink die Büchse und das Pritschholz in die Hand geben wollt.«
»Man bringe ihn vor uns!« entschied der Bahnmeister, und Jan Blaufink, der dazu erkoren war, die Schläge nach allen Seiten hin auszuteilen, wurde selbst mit vielen Püffen und Stößen bis zu dem Schauplatz seiner dreitägigen Herrlichkeit geleitet.
Am Abend erschien er in seinem Glanze. Das Gesicht war mit Kienruß gefärbt und auf dem Kopfe saß eine weiße Papiermütze, deren Spitze eine brandrote Schleife bildete. Er trug einen blauwollenen Kittel mit großen, roten Achselbändern, die aus einer alten Dragonerjacke herausgeschnitten waren. In der Rechten hielt er die Büchse, die aufleuchtete, wie blankpolierter Stahl, in der Linken schwang er das Pritschholz und versuchte es zur Probe allererst auf dem Rücken des Bahnmeisters, der ihn scheltend zum Teufel gehen hieß.
Laut lachend sprang Jan Blaufink mitten in den dichtesten Haufen hinein und das Fest von Schewe-Lieke war im vollsten Gange.
Freude und Leid hausen oft nebeneinander unter demselben Dache. Hier prahlt der Reichtum mit tausend überflüssigen Dingen, die ihm zur Last fallen, dort nagt die Armut am Hungertuch und bittet mit tränenden Augen um eine Stunde Schlaf, den drohenden Mangel zu vergessen.
Mitten in dem bunten Gewühl von Lachenden und Zechenden, welche sich in der sonst so einsamen Allee der Reeperbahn auf- und abbewegten, schlich eine verhüllte Frauengestalt. Sie blickte furchtsam um sich, machte mehrere Male Miene, einen oder den anderen der Vorübergehenden anzureden, stand aber jedesmal davon ab, aus Furcht, hart angelassen zu werden. Endlich vermochte sie dem Drange der innersten Notwendigkeit nicht zu widerstehen. Sie trat an eine Frau heran, die einen großen Henkelkorb am Arm, sich das bunte Treiben wohlgefällig betrachtete, und sagte leise:
»Ich bitte Euch um Gottes Barmherzigkeit willen, mir einen Dreiling zu Brot zu schenken.«
Die Frau tat, als hörte sie es nicht. Die verhüllte Bettlerin wiederholte nach einer Pause ihre Bitte, indem sie den Henkelkorb berührte, um die Aufmerksamkeit der Frau zu erregen.
Da fuhr das Weib laut schreiend auf: »Was hat Sie? Wer ist Sie? Was will Sie?«
»Um Gotteswillen!« entgegnete jene erschrocken. »Mache Sie nicht solchen Lärm. Die Leute sehen uns ja an.«
»Was ich sage und tue, kann die ganze Welt hören und sehen!« fuhr das Weib fort. »Aber Sie mag wohl Ursache haben, sich zu fürchten vor den Leuten, sonst würde Sie sich nicht so verhüllen.«
Die Erschrockene streckte flehend die Hände aus und sagte:
»Habe Sie doch mindestens Erbarmen ...«
»Die Hand weg!« kreischte jene noch lauter. »Ich merke ohnedies, daß es auf meinen Korb abgesehen ist. Um einen Dreiling wird gebettelt und ein Taler wird genommen!«
»Was untersteht Sie sich! ...« rief die bis dahin so demütige Frau; allein, sie kam nicht weiter, Scham und Zorn verschlossen ihr den Mund, während das Weib mit dem Henkelkorbe laut ausrief:
»Man soll mit dem Diebsgesindel wohl noch Umstände machen. Heda, Leute! Hier ist eine Diebin.«
Das Volk drängte sich um beide.
Unterdessen hatte Jan Blaufink in immer kühneren Kreisen seine Bahn durchlaufen und war oft über dieselbe hinausgeschweift. Das Pritschholz war nicht müßig und die Büchse füllte sich mehr und mehr. Es stand ein tüchtiges Trinkgelage für die folgenden Tage bevor. Je ausgelassener er war, je mehr ermunterten ihn seine Gefährten, und immer ungebändigter verfolgte er sein Ziel, das er mit jeder Viertelstunde weiter hinaussteckte. Jetzt wieder schoß er zwischen die Bäume durch und flog auf einen Menschenknäuel zu, der ihm wie eine Mauer entgegentrat. Allein Jan Blaufink war nicht gewohnt, vor solchen Hindernissen zurückzubeben. Wacker hieb er sich mit dem Pritschholz in den dichten Haufen hinein und stand der armen Bettlerin gegenüber, die vor Angst und Schrecken in die Knie gesunken war.
»Wer von Euch hat die arme Frau umgeworfen?« schrie Jan Blaufink und streckte die Hand nach ihr aus. »Helft mir sie aufrichten.«
»Das fehlte noch!« entgegnete jemand. »Es ist eine Diebin und sie gehört von Rechts wegen auf die Wache.«
»Nein! nein!« wimmerte die Bebende. »Ich habe nur um einen Bissen Brot gebettelt.«
»Die Frau mit dem Henkelkorbe hat es aber gesagt, daß sie eine Diebin ist – wo ist sie denn geblieben? – Diebe gehören auf die Wache.«
»Wenn sie auf die Wache soll,« rief Jan Blaufink, »will ich sie selbst dahin bringen. Ich habe hier die Polizei.«
Die Bettlerin, welche schon vorher bei dem Klange dieser Stimme aufhorchte, stöhnte jetzt:
»Jan! Jan!«
»So heiße ich!« sagte dieser. »Macht Platz für mich und die Frau!«
Er stieß die Worte mit bebender Hast heraus, denn auch er hatte die Stimme der Frau erkannt und sah bei dem letzten Schimmer des Abends in das blasse Gesicht der Frau Rosmarin. Sein Herz schlug gewaltig; aber die Gegenwart des Geistes verließ ihn nicht und im Befehlshaberton gebot er:
»Macht Platz! Ich bin der Armenvogt und da ist die Wache!«
Er deutete auf einen der Spinnschuppen, der ihm am nächsten lag. Lachend und zugleich scheltend wichen sie vor dem Repräsentanten des »Schewe-Lieke-Festes« zurück.
Jan und Frau Rosmarin verschwanden in dem Innern des Schuppens.
Es brennt!
»Halt und stopp!« sagte Jan Blaufink, indem sich die arme Frau auf einen Sack voll ausgeplüsten Werg niederließ. »Hier sollst du sitzen. Da ist es hübsch weich.«
Sie war unfähig, ein Wort zu sagen. Jan begab sich in eine Ecke, wo er in einem Kasten kramte und brachte einige Lebensmittel, die er vor sich her auf einem Brette herbeitrug:
»Sie haben mich heute gut versorgt. Hier habe ich Brot vollauf, da ist Speck und Fleisch. Nun greife zu, Mütterchen, und lasse es dir wohl bekommen.«
Bei dem Anblick dieser guten Gaben erwachte der Naturtrieb in voller Stärke. Frau Rosmarin legte das