Dr. Daniel Staffel 1 – Arztroman. Marie Francoise
einem strahlenden Lächeln versuchte sich Silvia aufzurichten, doch das war ein wenig schwierig, weil sie von der Narkose immer noch ziemlich benommen war. Und auch ihre Kinder konnte sie nur liebevoll streicheln, obwohl sie sie liebend gern in die Arme genommen hätte.
»Dr. Scheibler hat mir erlaubt, mit den Kindern zu warten, bis Sie aufwachen«, erklärte Anna. »Und die Kleinen waren dann auch mustergültig brav. Allerdings…, lange dürfen wir nicht bleiben. Am Operationstag sind Besuche eigentlich überhaupt nicht gestattet.«
»Frau Deichmann, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin«, beteuerte Silvia wieder. »Sie haben meinen Mann und mich buchstäblich gerettet.«
Bescheiden winkte Anna ab. »Nicht der Rede wert, Frau Burgner. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich froh bin, wenn ich mal gebraucht werde. Außerdem…«
»Oma! Komm! Spielplatz!« rief Stefan fordernd.
»Oma?« wiederholte Silvia erstaunt. »Aber, Stefan, du kannst doch zu Frau Deichmann nicht einfach Oma sagen.«
»Oma hat es uns aber erlaubt!« bekräftigte Tanja. »Sie hat gesagt, sie wäre gern eine Oma.«
Annas glückliches Lächeln bewies, daß die kleine Tanja die Wahrheit sagte.
Jetzt stand Anna auf. »Ich glaube, wir müssen uns verabschieden. Ich habe den beiden versprochen, daß wir noch zum Spielplatz gehen, wenn sie recht brav sind. Und außerdem tut es Ihnen sicher gut, wenn Sie noch ein bißchen Ruhe haben.«
Silvia lächelte. »Danke, Frau Deichmann. Sie sind wirklich ein herzensguter Mensch.«
*
Anna Deichmann war so glücklich wie nie zuvor. Jedesmal, wenn Tanja oder Stefan »Oma« zu ihr sagten, flog ein glückliches Leuchten über ihr Gesicht. Und mit Richard Burgner hatte sie sich auf den Vornamen geeinigt. Sie fand das persönlicher, und Richard war ganz ihrer Meinung. Außerdem hatte er die gütige Frau in den vergangenen Tagen sehr lieb gewonnen, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.
Um so besorgter sah Anna der baldigen Entlassung Silvias entgegen. Sie wußte, wenn Silvia erst wieder zu Hause war, dann würde sie bald nicht mehr gebraucht werden, und ihr eintöniges, freudloses Leben würde wieder von vorn beginnen.
»Anna, was bedrückt Sie denn so?« wollte Richard schließlich wissen. »Wird Ihnen die Arbeit zuviel? Sind Tanja und Stefan zu anstrengend?«
»Aber nein, ganz im Gegenteil«, antwortete Anna hastig, dann senkte sie den Kopf. »Es ist vielmehr…, ach, machen Sie sich keine Gedanken. Das ist allein mein Problem.«
Prüfend sah Richard sie an. »Dieser Meinung bin ich ganz und gar nicht. Ich fürchte sogar, es geht mich sehr viel an.« Und dann griff er impulsiv nach Annas Hand. »Bitte, schütten Sie mir Ihr Herz aus, und wenn ich Ihnen helfen kann, dann werde ich es tun, verlassen Sie sich darauf.«
Mit ihren gütigen Augen blickte Anna den jungen Mann an. »Sie waren Ihren Eltern sicher ein guter Sohn.«
Richard senkte den Kopf. »Ich hatte keine Eltern…, jedenfalls habe ich sie nicht gekannt. Man sagte mir nur, daß sie bei einem Unfall ums Leben gekommen seien.« Er seufzte leise. »Ich besitze nicht einmal ein Foto von ihnen.«
Die Worte klangen so traurig, daß Anna das Herz schwer wurde.
»Mein armer Junge«, stieß sie hervor und nahm ihn impulsiv in die Arme. Im nächsten Moment wurde ihr bewußt, was sie da gerade getan hatte. Errötend trat sie zurück und senkte den Kopf. »Meine Güte, Richard, Sie müssen mich entschuldigen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
Doch Richard lächelte. »Keine Ursache, Anna. Ihre mütterliche Umarmung war mit das Schönste, was mir jemals widerfahren ist. Bis ich Silvia kennenlernte, gab es in meinem Leben nicht viel Liebe. Die Erzieherinnen, die in dem Heim arbeiteten, waren total überlastet. Meine ganze Kindheit über habe ich mich nach einem Menschen gesehnt, der mich liebt…, nach einer Mutter, die mich tröstend in die Arme nimmt, und nach einem Vater, der mit mir Drachen baut und Fußball spielt.«
In diesem Augenblick fühlte sich Anna diesem jungen Mann so nah wie nie zuvor. Er hatte – mit umgekehrten Vorzeichen – genau das ausgesprochen, was sie schon seit so vielen Jahren selbst fühlte.
»Und ich habe mich ein Leben lang nach einem Kind gesehnt.« Die Worte kamen wie von selbst. Es war, als wäre ihr Mund nur das Werkzeug – was er aussprach, kam direkt aus ihrem Herzen. »Mit siebenundzwanzig Jahren wurde ich Witwe, und ich habe meinen Mann so sehr geliebt, daß es niemanden gab, der an seine Stelle hätte treten können. Ich blieb allein, und damit erfüllte sich auch mein Wunsch nach einem Kind nicht. Meine Güte, wie habe ich jede Frau beneidet, die ein Baby im Arm hielt.
Und später…, all die Frauen, die mit so mißmutigem Gesicht ihre Kinder zur Schule brachten und wieder abholten. Wie gerne hätte ich mit ihnen getauscht! Wie gerne hätte ich einmal im Leben so zarte kleine Ärmchen um meinen Hals gefühlt und ein zartes, weiches Gesicht an meiner Wange. Und ich hätte mein Leben dafür gegeben, wenn ich nur einmal die Worte ›Ich hab dich lieb, Mutti‹ hätte hören dürfen.«
Richard konnte nicht verhindern, daß ihm angesichts dieser Lebensbeichte Tränen in die Augen stiegen. Und dann war er es, der Anna liebevoll in die Arme nahm.
»Hättest du Lust, mich zu adoptieren?« fragte er leise und gebrauchte, dabei ganz zwanglos das vertraute Du. »Nicht vor dem Gesetz…, ich meine, nur im Herzen.«
Anna nickte an seiner Schulter. »Ja, Richard, nichts lieber als das.«
Und während sie sich noch gegenseitig in den Armen hielten, flüsterte Richard: »Ich bin zwar kein Kind mehr, und für das Wort ›Mutti‹ fühle ich mich schon ein bißchen zu alt, aber… ich habe dich lieb, Anna – von ganzem Herzen.«
*
Gleich am nächsten Tag bekam Silvia Besuch von ihrem Mann. Es war schon ziemlich spät am Abend, und so war Silvia mehr als erstaunt, ihn zu sehen.
»Richard, du? Mit dir habe ich heute nicht mehr gerechnet. Ich komme doch morgen früh sowieso nach Hause.«
Er küßte sie liebevoll. »Das klingt ja, als würdest du dich über meinen Besuch nicht freuen.«
Silvia lächelte ihn zärtlich an. »Du weißt doch, daß ich mich immer freue, dich zu sehen.« Sie streckte die rechte Hand aus. »Komm, Liebling, setz dich her zu mir. Und dann erzähl, was es so Wichtiges gibt.«
»Es ist wirklich wichtig«, beteuerte Richard, während er sich auf Silvias Bett setzte und dann ihre Hand ergriff. »Es geht um Anna.«
Silvia nickte. »Sie hat mir schon erzählt, wie gut sie sich mit dir und den Kindern versteht. Tanja und Stefan sind ganz glücklich, weil sie jetzt plötzlich eine Oma bekommen haben.«
»Genau darüber wollte ich mit dir sprechen«, hakte Richard sofort ein. »Anna ist in den vergangenen Tagen weit mehr als nur eine Haushaltshilfe geworden. Silvia, ich liebe diese Frau, als wäre sie meine leibliche Mutter. Und ich möchte ihre Anwesenheit nicht mehr missen.«
Erstaunt sah Silvia ihren Mann an und erkannte den tiefen Ernst auf seinen Zügen.
»Sie gibt mir all das, was ich während meiner ganzen Kindheit vermißt habe«, fuhr Richard fort.
Ein leiser Schmerz zog in Silvias Herz. »Und ich kann dir das nicht geben?«
Da lächelte Richard plötzlich. »Bist du etwa eifersüchtig?« Spontan nahm er sie in die Arme. »Aber, Liebes, du weißt doch genau, wieviel du mir bedeutest. Und meine Liebe zu dir hat mit dem, was ich für Anna fühle, nicht das Geringste zu tun. Bitte, Silvia, versteh mich richtig, Anna ist in der vergangenen Woche zu meiner Mutter geworden.« Er senkte den Kopf. »Vielleicht hältst du mich jetzt für kindisch, aber… ich möchte diese Frau wirklich nicht mehr missen.«
Silvia begriff, daß hier ein Naturereignis stattgefunden hatte, und sie wußte auch, daß es barbarisch wäre, die Liebe, die zwischen ihrem Mann und Anna Deichmann gewachsen