Dr. Norden (ab 600) Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Nun läutete das Telefon. Dr. Clementis wollte sich zurückziehen, aber sie winkte ihm zu bleiben. Das war gut, denn Dr. Norden rief an und sagte ihr, daß die Möglichkeit bestünde, daß Michelle schon am Montag mit Constantin und Conchita Meyring nach München fahren könnte. Ob es ihr recht wäre, wenn die beiden sie dann gleich zu ihr brächten.
»Natürlich ist es mir recht. Kann Michelle jetzt doch schon früher weg?«
»Ja, es hat geklappt. Sie ist froh, daß die Meyrings sie mitnehmen, da wir noch ein paar Tage am Lago Maggiore verbringen möchten. Mit uns hätte Michelle auch fahren können, aber sie will so schnell wie möglich zu Ihnen.«
»Darüber bin ich sehr glücklich. Ich wußte ja, daß ich mich auf Sie verlassen kann, lieber Dr. Norden. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«
Als das Gespräch beendet war, sah sie Marc Clementis an. »Michelle kommt schon am Montag. Bekannte können sie mitnehmen.«
Es klang fast triumphierend, und ihre Augen leuchteten.
»Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dann am Dienstag hier besuchen, damit ich Sie mit Michelle bekannt mache. Und wenn Sie ihr bei der Wohnungssuche helfen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Hoffentlich wird sie nicht sehr schnell aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurückgeholt, dachte Marc, denn er hatte in seinem Beruf schon genügend Enttäuschungen erlebt.
Schließlich ging es auch hier um viel Geld. Vielleicht rechnete Michelle sich das aus. Er wußte, welche Rolle Geld bei jungen Menschen spielte, die sich vieles nicht leisten konnten.
*
Marc war so skeptisch, weil er in jungen Jahren recht negative Erfahrungen mit Mädchen gemacht hatte, die durchweg anspruchsvoll waren und sehr darauf bedacht, sich an Männer mit Geld zu halten.
Er hatte eine Zeit gebraucht, um auch hinter hübschen Gesichtern und naivem Getue die wahren Charaktere zu erkennen. Er wollte keineswegs sagen, daß Männer nicht auch auf ihre Vorteile bedacht sein konnten, aber das waren meist Machos, die sich auch nicht zu verstellen brauchten, weil manche Frauen ihnen sowieso nachliefen. Ihm hatten jedenfalls zwei enttäuschende Erlebnisse genügt, um äußerst vorsichtig zu werden. Allerdings hatte er finanziell nicht viel zu bieten, wenn er auch mit seinem Verdienst recht gut zurechtkam. Er hatte die Wohnung seiner Eltern behalten können, und sie war groß genug, daß er einen Untermieter hätte hineinnehmen können, aber davor scheute er zurück. Die Kanzlei war ihm sozusagen in den Schoß gefallen. Natürlich war er froh, daß die Baronin ihn sofort akzeptierte, aber ein bißchen unheimlich war es ihm doch, daß sie gleich so großes Vertrauen in ihn setzte.
Sie ist einfach zu nett, dachte er. Auch mit Dr. Norden hatte sie so freundschaftlich gesprochen. Marc hatte schon ganz andere Damen der Gesellschaft kennengelernt, die meinten, besondere Privilegien beanspruchen zu können. Wehe, wenn da nicht alles so klappte, wie sie es sich vorstellten.
Jedenfalls, so dachte er, konnte diese Michelle von Glück sagen, solche Großmama zu bekommen. Was war eigentlich mit der Mutter? Von ihr hatte die Baronin gar nicht gesprochen.
Nun, schließlich konnte er nicht erwarten, die ganze Familiengeschichte gleich beim ersten Kennenlernen zu erfahren.
Er mußte noch einmal in die Kanzlei und sich auf einen Scheidungsprozeß vorbereiten, bei dem es nicht nur um Geld ging, sondern auch um das Sorgerecht für zwei Kinder. Das kam ihn jedesmal hart an. Er war zwar kein Scheidungskind, aber die Ehe seiner Eltern war alles andere als harmonisch gewesen.
Er saß bis spät über seinen Akten und fuhr erst heim, als er schon fast am Schreibtisch einschlief.
*
Die Familie Norden war an diesem Tag zur Rückfahrt an den Lago Maggiore aufgebrochen, sehr zum Bedauern von Madame Fleur, die ihnen erklärte, daß sie noch nie so reizende Deutsche kennengelernt hätte.
Sie hatten noch einmal mit Michelle, Conchita und Constantin einen Brunch eingenommen und Michelle dann einen guten Anfang in München gewünscht.
»Wie könnte er anders sein als gut«, sagte sie schwärmerisch.
Constantin versprach, auf die beiden Juwele gut aufzupassen, und dann winkten die Kinder noch lange zurück.
»Wir sehen Michelle doch wieder, Mami«, sagte Anneka. »Sie ist so lieb.«
»Wir werden sie bestimmt wiedersehen«, erwiderte Fee.
»Es ist schön, daß sie nun zu ihrer Großmama kommt«, fuhr Anneka fort. Ihr weiches Herzchen nahm immer Anteil, wenn etwas Aufregendes passierte. Für die Buben war es jetzt wichtiger, daß sie wieder in eine Umgebung kamen, in der sie ihre Freiheiten hatten.
Fee war in Nizza zu viel Betrieb gewesen. Für kurze Zeit hatte es ja Spaß gemacht, aber erholen konnten sie sich da nicht richtig.
Dieser Meinung war auch Daniel, der sich gleich dem Faulenzen hingab, als sie am Ziel waren.
Es war nur gut, daß der Ausflug nach Nizza so erfolgreich gewesen war und sie nicht zuviel Zeit gekostet hatte. Es war auch schön gewesen, mit Michelle zusammenzusein und auch mit Conchita und Constantin. An die Hochzeit dachte Fee gern zurück, denn es war eine Doppelhochzeit gewesen. Das andere Paar Kim Meyring und Jan Bernold hatten eine sehr schwere Zeit durchstehen müssen.
Bei Conchita und Constantin dachte man, daß sie das Leben leichtnehmen würden, es einfach nur genießen, ihren Neigungen lebend.
Ganz so war es aber nicht, denn sie gingen nicht achtlos an den Nöten und Sorgen anderer Menschen vorbei.
Es ist schön, daß sie so glücklich sein können, dachte Fee, aber die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, kamen vom Zwiebelschneiden.
*
Am Montag dachten Fee und Daniel unentwegt an Michelle, die mit Conchita und Constantin die Reise nach München antreten sollte.
Fee rief gegen neun Uhr Conchita an.
»Hab’ ich es mir doch gedacht«, sagte Conchita, »du traust uns wohl nicht zu, daß wir mit dem Packen fertig sind, aber Constantin verstaut schon alles im Auto. Michelle hilft ihm. Willst du sie sprechen?«
»Nein, ich will sie nicht nervös machen. Ich wünsche euch eine gute Fahrt.«
Daniel hatte natürlich gemerkt, daß sie telefoniert hatte.
»Na, sind sie schon weg?« fragte er verschmitzt.
»Sie sind gerade im Aufbruch begriffen. Hoffentlich übersteht die Baronin die Wartezeit gut.«
»Sie hat so viele Jahre gewartet, den Tag wird sie auch überstehen. Sie hat die Weisheit des Alters, mein Liebes. Ich gönne ihr von Herzen dieses späte Glück. Aber eigentlich würde es mich interessieren, was Michelles Mutter zu dieser Entwicklung sagt.«
»Vielleicht bedauert sie es jetzt, daß sie keine Verbindung zu Viktors Mutter aufgenommen hatte. Sie wird sich ausrechnen können, daß sie ein sorgenfreies Leben hätte haben können.«
Das rechnete sich allerdings mehr Claude d’Aubert aus.
»Meinst du nicht, daß es töricht von dir war, auf deine Ansprüche zu verzichten, Madeleine?« fragte er, als sie erwähnt hatte, daß Michelle zu ihrer Großmama reisen würde.
»Ich habe nicht verzichtet, ich hatte meinen Stolz. In solchen Kreisen ist es doch ein Fehltritt, ein uneheliches Kind zu bekommen. Ich kannte ihre Einstellung nicht und sagte mir, daß Viktor Gründe dafür hatte, mich seiner Mutter erst vorzustellen, wenn wir verheiratet sind.«
»Hast du nie daran gedacht, daß er dich vielleicht gar nicht heiraten wollte?«
Sie sah ihn fassungslos an.
»Wie kannst du so etwas denken? Wir haben uns geliebt. Das Unglück war doch nicht vorauszusehen.«
»Und wenn er selbst sein Leben aus irgendeinem Grunde beenden wollte?«
»Mein Gott, in welche Gedanken