Der Bergpfarrer Staffel 8 – Heimatroman. Toni Waidacher
stimmt net ganz«, sagte Sebastian. »Ihre Großmutter, Angela, ist vor gut dreißig Jahren verstorben, das ist richtig. Aber der Vater Ihrer Mutter, Ihr Großvater also, lebte bis vor ein paar Wochen noch…«
Die junge Frau sah den Geistlichen mit großen Augen an.
»Was sagen Sie da?«
Der Bergpfarrer nickte.
»Ja, Angela, es ist so, wie ich’s sag’«, erklärte er. »Ihre Mutter ist vor fünfundzwanzig Jahren von zu Hause fortgelaufen. Sie hatte alles zurückgelassen und die Brücken hinter sich abgebrochen.«
Sebastian zuckte die Schultern.
»Über die Gründe mag man nur spekulieren«, fuhr er fort. »Vor allem, warum sie sich net wieder mit dem Vater versöhnen wollte und seine Briefe ungeöffnet zurückschickte. Erfahren werden wir es nie, denn sie lebt net mehr. Aber Ihr Großvater hat immer eine Versöhnung gewollt. Auf dem Sterbebett bat er mich, nach seiner Tochter zu suchen. Leider vier Jahre zu spät.«
Angela Hofmeister schaute ihn an und schluckte. Tränen standen in ihren Augen, und sie biß sich auf die Unterlippe.
»Ich dank’ Ihnen, Hochwürden, daß Sie extra hergekommen sind, um mir davon zu erzählen«, sagte sie leise.
Sebastian Trenker schüttelte den Kopf.
»Dafür müssen S’ mir net danken, Angela«, erwiderte er. »Und es ist net der einzige Grund, warum ich da bin.«
Die junge Frau sah ihn fragend an.
»Was denn noch? Gibt’s vielleicht noch einen anderen Verwandten, von dem ich nichts weiß?«
»Nein, einen Verwandten net«, antwortete der Geistliche »Aber da ist der Hof Ihres Großvaters. Als seine einzige noch lebende Nachfahrin steht Ihnen der Ahringerhof zu. Sie sind Urban Ahringers Erbin.«
Angela glaubte nicht richtig zu hören.
»Ich…?«
»Ja«, nickte Sebastian, »deshalb bin ich hergekommen. Ich wollt’ net, daß Sie aus einem anwaltlichen Schreiben erfahren, was da auf Sie zukommt. Außerdem war es mir wichtig, mit Ihnen über Ihre Familie zu sprechen. Und dann ist da noch die Zeit – Sie müssen sich recht bald entscheiden, ob Sie die Erbschaft antreten oder ausschlagen wollen. Die gesetzliche Frist läuft in zwei Wochen ab. Bis dahin müssen S’ eine Entscheidung getroffen haben.«
Die junge Frau hob hilflos die Hände.
»Aber…, ich bin Verkäuferin und keine Bäuerin«, sagte sie. »Ich hab’ doch von der Landwirtschaft überhaupt keine Ahnung!«
»Auch darum bin ich hier«, erwiderte der gute Hirte von St. Johann. »Um Ihnen die Furcht zu nehmen. Man kann alles lernen, außerdem haben S’ einen tüchtigen Knecht auf dem Hof, der alles alleine macht. Selbst das Putzen und Kochen hat der Florian übernommen. Aber natürlich fehlt die Hand einer Frau auf dem Hof.«
Angela lehnte sich zurück. Ihr Kopf schwirrte, und sie wußte überhaupt nicht, was sie sagen sollte. Das Abendessen stand bislang noch unberührt da.
Elvira Wirtmeyer forderte sie auf, doch endlich mit dem Essen zu beginnen.
»Ich will Sie net zu einer Entscheidung drängen«, beruhigte Sebastian die junge Frau. »Überlegen S’ sich in aller Ruhe, aber bis zum Ende der Woche sollten S’ sich entschieden haben.«
Angela Hofmeister nickte. Sie wußte, daß sie damit vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens stand.
*
In dieser Nacht wollte sich der Schlaf einfach nicht einstellen. Angela wälzte sich stundenlang unruhig in ihrem Bett, und die wildesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf.
Ich hab’ geerbt, dachte sie immer wieder. Das gibt’s doch überhaupt net! Noch am Nachmittag hatte sie darüber mit Tina Scherze gemacht, und jetzt lag sie hier und mußte sich entscheiden, ob sie diese Erbschaft antreten wollte oder nicht.
Noch lange hatte sie mit Pfarrer Trenker zusammengesessen und sich mit ihm unterhalten. Viel hatte er wissen wollen. Über den Vater, der schon so jung tödlich verunglückte, die Mutter, die so schwer krank gewesen war und einen langen Leidensweg hinter sich gebracht hatte, bis der Herrgott sie abberief. Und von sich selbst hatte sie gesprochen. Dreiundzwanzig Jahre war sie jetzt alt. Als die Mutter vor vier Jahren verstarb, da hielt es Angela nicht mehr länger in München aus. Ihre Familie war nie reich gewesen. Eher schlecht als recht, brachte die Mutter sich und das Kind nach dem Verlust des Mannes über die Runden. Arbeiten mußte sie, um die karge Witwenrente aufzubessern, die von hinten bis vorne nicht reichte.
Als Angela zwölf Jahre alt wurde, da begleitete sie die Mutter schon seit zwei Jahren zu verschiedenen Putzstellen, um ihr bei der Arbeit zu helfen. Mit sechzehn dann verließ sie die Schule und trat eine Lehrstelle in einem exklusiven Herrenmodegeschäft an. Sie bestand drei Jahre später ihre Prüfung und kurz darauf mußte die Mutter immer häufiger ins Krankenhaus, wo sie schließlich verstarb.
Angela, nun auf sich allein gestellt, wollte nicht mehr länger in ihrer Heimatstadt bleiben, an die sie mehr traurige, als schöne Erinnerungen hatte. Es verschlug sie nach Nürnberg, die Metropole Frankens, wo sie eine Stelle in dem Kaufhaus fand und, zu ihrem Glück, wie sie immer wieder feststellte, ein schöne Wohnung im Haus der Witwe Wirtmeyer.
Angela hatte sich in ihrem Bett aufgerichtet. Es stand am Fenster, und sie schaute hinaus. In der kleinen Seitenstraße war um diese Uhrzeit kaum noch Verkehr, laue Nachtluft drang durch das geöffnete Fenster und die junge Frau atmete sie tief ein.
Ein ganzer Bauernhof, dachte sie, aber was soll ich damit?
Gewiß, Pfarrer Trenker hatte gesagt, man könne alles lernen, was man braucht, um Bäuerin zu sein. Und dann wäre da ja auch noch dieser Knecht.
Aber wollte sie es wirklich? Wollte sie alles hier zurücklassen, die hübsch eingerichtete Wohnung, die Arbeit, die einzige gute Freundin?
Sie wußte keine Antwort darauf, aber immer mehr spürte Angela Hofmeister den Wunsch, die Heimat ihrer Mutter kennenzulernen. Auf deren Spuren dort zu wandeln und zu ihren eigenen Wurzeln zurückzukehren.
Als der Wecker klingelte, schrak sie zusammen. Nicht eine Minute hatte sie wirklich geschlafen und einen Entschluß hatte sie auch nicht gefaßt.
Oder doch?
Als sie im Badezimmer vor dem Spiegel stand und ihr Gesicht betrachtete, da war es, als blicke ihre Mutter sie an.
Wie hatte Hochwürden doch gesagt?
»Sie sind Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Angela lächelte, als sie sich diese Worte jetzt in Erinnerung rief. Sie mußten wohl stimmen, denn schon früher hatten die Leute über die große Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter geredet.
Sie drehte sich um und verließ das Bad. Auf dem Nachtkästchen stand ein Bilderrahmen, mit dem Foto der Eltern darin. Angela nahm es in die Hand und betrachtete es.
»Vielleicht sollte ich es tun«, sagte sie sich selbst.
»Bestimmt hast du’s dir heimlich auch immer gewünscht, Mutter, eines Tages dorthin zurückkehren zu können.«
*
Sebastian hatte die Nacht in einer Pension verbracht.
Nachdem er sich von den beiden Frauen verabschiedet hatte, war er zum Bahnhof zurückgegangen und hatte seine Reisetasche aus dem Schließfach geholt. Bereits nach dem Besuch im Kaufhaus hatte er sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umgesehen, nachdem er sich dann in der Pension eingerichtet hatte, war er noch einmal zu einem Spaziergang durch die Stadt aufgebrochen.
Der gute Hirte von St. Johann war schon mehrmals in Nürnberg gewesen und kannte sich recht gut aus. Guten Kontakt pflegte er auch zu seinen Amtsbrüdern von den Pfarrkirchen St. Lorenz und St. Sebaldus. Schmunzelnd hatte er schon oft den zahlreichen Touristen zugesehen, die den »Goldenen Ring«, am »Schönen Brunnen«