Emotional gesund leiten. Peter Scazzero

Emotional gesund leiten - Peter  Scazzero


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und Edelsteine (1 Kor 3,10-15) –, begnügen sie sich mit Holz, Stroh und Lehm. Sie bauen mit minderwertigem Material, das sie selbst nicht überdauern wird, ganz zu schweigen vom letzten Gericht. Und so verdunkeln sie den Glanz Gottes und seine Herrlichkeit, die sie doch nach ihren eigenen Worten der ganzen Welt verkünden wollen. Das tut niemand, der irgendwo eine Leitungsfunktion wahrnimmt, bewusst. Und doch passiert es immer und überall.

      Sehen wir uns ein paar Beispiele an, wie das konkret aussieht.

      Sarah ist verantwortlich für die Jugendarbeit in der Gemeinde. Sie ist überfordert. Aber sie bringt es nicht fertig, erwachsene Ehrenamtliche zu gewinnen, die sie unterstützen und die Reichweite der Arbeit vergrößern könnten. Sie verfügt durchaus über Führungsqualitäten, aber sie ist defensiv und leicht gekränkt, wenn andere eine andere Meinung haben als sie. Die Jugendarbeit stagniert und es geht sogar langsam bergab.

      Josef ist Lobpreisleiter. Er ist ein dynamischer Typ, aber er ist sehr spontan und häufig unpünktlich und dadurch verliert er immer wieder wichtige Band-Mitglieder. Er erkennt nicht, dass das, was er seinen „Stil“ nennt, Menschen abschreckt, die ein anderes Temperament haben. Er glaubt, er sei „authentisch“, und steht dazu, dass er eben so ist. Er ist nicht bereit, anderen und deren Bedürfnissen entgegenzukommen. Kaum verwunderlich, dass die Qualität der Musik und der Anbetung im Gottesdienst immer mehr abnimmt.

      Martin leitet als Ehrenamtlicher die Kleingruppenarbeit seiner Gemeinde. Seitdem ist diese Arbeit aufgeblüht – in den letzten Monaten sind drei neue Gruppen entstanden. 25 bisher kirchenferne Menschen treffen sich 14-tägig, um mehr über den Glauben zu erfahren. Aber unter der glänzenden Fassade gibt es Risse. Der Leiter der Kleingruppe, die am schnellsten gewachsen ist, führt den Kreis in eine andere Richtung als die, die die Gemeinde vorgibt und ansteuert. Martin ist beunruhigt, aber er vermeidet es, das Problem anzusprechen, aus Angst, dass das Gespräch schwierig werden könnte. Ein anderer Hauskreisleiter hat durchblicken lassen, dass er familiäre Probleme hat. In einer anderen Gruppe gibt es Vielredner, die andere aus der Gruppe vergraulen, und der Leiter hat Martin um Unterstützung gebeten. Aber Martin geht einem Gespräch aus dem Weg. Er ist konfliktscheu und hofft, dass die Dinge sich irgendwie von selbst lösen werden. Nach sechs Monaten sind drei der vier neuen Hauskreise eingeschlafen.

      Vier Kennzeichen eines emotional unreifen Leiters

      Die Defizite emotional unreifer Leiter beeinträchtigen praktisch jeden Bereich ihres Lebens und ihrer Führungsverantwortung. In den folgenden vier Bereichen wirken sie sich aber besonders unheilvoll aus.

      1. Geringes Maß an Selbstwahrnehmung

      Emotional unreife Leiter sind sich in der Regel nicht darüber im Klaren, was in ihnen selbst vorgeht. Und selbst wenn sie eine starke Emotion wie etwa Zorn wahrnehmen, wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen oder wie sie sie ehrlich und auf angemessene Weise zum Ausdruck bringen können. Sie ignorieren Körpersignale, die eine Gefühlsbotschaft tragen – Erschöpfung, Krankheit, die auf Stress beruht, Gewichtszunahme, Kopfschmerzen oder Depression. Sie erkennen nicht, dass Gott ihnen durch diese „schwierigen“ Gefühle vielleicht etwas sagen möchte. Meist fällt es ihnen schwer, Auslöser für eine emotionale Überreaktion zu erkennen und zu sehen, wie ihr Verhalten heute mit schwierigen Erfahrungen in der Vergangenheit zusammenhängen könnte.

      Oft haben sie Persönlichkeitsmodelle mit Gewinn durchgearbeitet (etwa den Briggs-Myers-Typenplan, das Enneagramm oder das DISG-Modell). Aber wie ihr Verhalten mit den Mustern der eigenen Ursprungsfamilie zusammenhängt, bleibt ihnen meist verborgen. Das fehlende Bewusstsein für die eigenen Emotionen führt auch dazu, dass sie die emotionale Welt anderer oft nur schwer oder gar nicht verstehen und nachempfinden können. Oft sind sie blind dafür, wie ihre eigenen emotionalen Defizite sich darauf auswirken, wie andere sie wahrnehmen, ganz besonders in ihrer Rolle als Führungspersonen.

      2. Dienst erscheint wichtiger als der private Lebenskontext

      Egal, ob verheiratet oder nicht, die meisten emotional unreifen Leiter würden zustimmen, dass es wichtig ist, in guten und vertrauten Beziehungen zu leben, in denen man Intimität erfahren kann. Aber nur wenige haben eine Vorstellung davon, dass ihre Ehe oder ihr Singledasein die größte Gabe sein könnte, die sie in ihren Dienst für andere einbringen können. Viele betrachten ihre Ehe oder ihr Singleleben vielmehr als ein wichtiges und stabiles Fundament für etwas noch Wichtigeres – nämlich die Aufgabe, ein funktionierendes Werk oder Unternehmen oder eine attraktive Gemeinde aufzubauen. Das ist ihre oberste Priorität. Und so investieren sie den größten Teil ihrer Zeit und Kraft, um eine bessere Führungskraft zu werden, aber nur wenig, um eine gute Ehe zu führen oder ein eheloses Leben so zu gestalten, dass darin etwas davon deutlich wird, was die Liebe Jesu bedeuten kann.

      Emotional unreife Leiter neigen dazu, ihr Privatleben – Ehe oder Single-Dasein – abzuspalten, sowohl von ihrer Führungsrolle als auch von ihrer Beziehung zu Jesus. So treffen sie etwa weitreichende Führungsentscheidungen, ohne zu berücksichtigen, wie sich diese langfristig auf die Qualität und Integrität ihrer Ehe oder ihres Lebens als Single auswirken. Sie verausgaben ihre besten Kräfte, Gedanken und kreativen Anstrengungen, um andere zu führen, aber sie investieren nichts, um ein erfüllendes und glückliches Leben in der Ehe oder Ehelosigkeit zu führen.

      3. Mehr für Gott tun, als die tatsächliche Beziehung zu Gott zu tragen vermag

      Emotional unreife Leiter sind chronisch überfordert. Obwohl sie ohnehin schon viel zu viel zu tun und für alles zu wenig Zeit haben, sagen sie reflexartig Ja zu jeder sich bietenden neuen Gelegenheit, aktiv zu werden. Sie nehmen sich aber nicht die Zeit, im Gebet danach zu fragen, was wohl Gottes Wille in dieser Sache ist. Die Vorstellung, sie könnten ihr geistliches Leben – oder die Art, wie sie führen – entschleunigen, damit das, was sie für Jesus tun, aus einem in Jesus gegründet Sein erwächst, ist ihnen fremd. Zeiten des Alleinseins oder Schweigen gelten ihnen als Luxus, keineswegs als zentrale geistliche Übung und schon gar nicht als unverzichtbar für wirksames Führen. Ihre oberste Priorität ist ihre Führungsaufgabe in ihrer Organisation, ihrem Team oder Dienstbereich in der Gemeinde, denn damit wollen sie ja die Welt für Christus gewinnen. Fragte man solche Leiter nach ihren drei Hauptprioritäten, nach denen sie ihre Zeit einteilen, wäre der Punkt: „eine tiefe, das Leben formende Beziehung zu Jesus zu pflegen“ wohl kaum darunter. Und so verwundert es nicht, dass der Normalzustand in ihrem Leben und ihrem Führungsstil von Abspaltung und Erschöpfung und Substanzverlust gekennzeichnet ist.

      4. Fehlender Rhythmus von Arbeit und Ruhe

      Emotional unreife Leiter kennen keine Sonntagspraxis – keinen Ruhetag: vierundzwanzig Stunden in jeder Woche, die nur dazu da sind, die Arbeit liegen zu lassen, sich zu erholen, Gottes gute Gaben zu genießen und sich an ihm und am Leben überhaupt zu freuen. Das Sabbatgebot, so zentral im Alten Testament, erscheint ihnen irrelevant, nicht verbindlich oder sogar als lästige Gesetzlichkeit, die in längst vergangene Zeiten gehört. Oder sie unterscheiden nicht zwischen dem biblisch gebotenen Sabbatfeiertag und einem „freien Tag“, an dem man Dinge erledigt wie Einkaufen, Überweisungen ausschreiben und die Steuererklärung machen. Für sie steht an erster Stelle, dass sie alle Aufgaben erledigen und hart genug arbeiten, um sich einen freien Tag zu „verdienen“.

      André ist sechsundfünfzig. Er leitet einen Gemeindeverband, zu dem mehr als sechzig Gemeinden gehören, für die er verantwortlich ist. Er hat schon seit etlichen Jahren nicht mehr richtig Urlaub gemacht – einen Urlaub ohne E-Mails oder telefonische Erreichbarkeit. Ein wöchentlicher Ruhetag liegt völlig außerhalb seiner Vorstellungen. Bei einem Treffen mit einem Freund – das er vor der nächsten Sitzung noch in den Terminkalender gequetscht hat – ergibt sich folgendes Gespräch.

      „André, du siehst ein bisschen fertig aus“, sagt Ralf. „Wann hast du zuletzt mal einen Tag nicht gearbeitet?“

      „Ausruhen können wir im Himmel“, erwidert André. „Gott schläft und schlummert doch schließlich auch nicht, oder? Und wir sind seine Mitarbeiter.“

      Aber es ist offensichtlich, dass er zutiefst erschöpft ist.

      „Ich weiß ja, dass du deine Arbeit liebst“, bemerkt Ralf. „Aber gibt es sonst noch etwas in deinem Leben, das dir richtig Freude macht?“

      Es


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