Emotional gesund leiten. Peter Scazzero
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Wieder ein langes Schweigen. „Aber was soll ich machen? Alle Kollegen in vergleichbaren Positionen arbeiten genauso viel.“
„Und das ist eine Entschuldigung?“, hakt Ralf nach.
„Du hast recht“, antwortet André lächelnd. „Ich werde versuchen, mir den Montag wieder freizuhalten.“
Eine Stunde später brütet André über seinem Kalender. Fünf von sechs Montagen in den nächsten sechs Wochen sind bereits verplant. Wem will ich eigentlich etwas vormachen?, denkt er. Ein regelmäßiger freier Tag? Das ist nicht zu machen. Ich muss dann einen einlegen, wenn die Termine es erlauben. Aber die Chancen stehen gut, dass die Termine es nie erlauben werden. Und der gelegentliche freie Tag alle paar Wochen reicht nicht aus, um einen gesunden Rhythmus von Arbeit und Ruhe zu etablieren. Den aber braucht André, um seine Leitungsaufgabe effektiv wahrzunehmen und selbst gesund zu bleiben.
Wer Ihnen beim Stichwort „emotional unreifer Führungsstil“ einfällt, habe ich anfangs gefragt. Treffen die vier genannten Kennzeichen das, was Ihnen da zuerst durch den Kopf ging? Oder haben Sie sich vielleicht sogar selbst wiedererkannt? Ja, das meiste davon leuchtet mir ein, denken Sie vielleicht. Oder auch: Das bringen Führungspositionen eben so mit sich. Ich kenne Leute, die noch viel mehr Defizite haben und trotzdem gute Führungsleute sind. Es stimmt: Nichts von dem, was ich genannt habe, klingt übermäßig dramatisch. Aber im Lauf der Zeit werden Leiter mit den genannten Defiziten nicht nur persönlich einen hohen Preis zahlen, wenn sie nichts dagegen unternehmen; auch ihre Organisationen werden leiden.
Die Langzeitfolgen einer unreifen Leitung sind eine Bedrohung für die Gesundheit der Leiter und für die Wirksamkeit der Gemeinde und Kirche. Wenn wir uns darauf einigen können, müssen wir als Nächstes fragen: Warum halten wir so beharrlich an ungesunden Mustern fest? Man sollte doch erwarten, dass jeder, der in der Kirche mitarbeitet, eine gesunde Führungskultur befürwortet und alles dafür einsetzt, eine solche zu etablieren. Aber in der Realität ist es anders. Ja, man muss sogar sagen: Es gibt Aspekte in der Führungskultur in Kirche und Gemeinden, die diesem Ziel aktiv entgegenwirken. Wenn Sie sich entschließen, ganz bewusst emotional gesunde Strukturen in Ihrem Führungsstil zu etablieren, müssen Sie mit einigem Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen. Sie werden mit dem zu kämpfen haben, was ich die „Vier giftigen Gesetze für Gemeindeleiter“ genannt habe.
Selbsteinschätzung: Wie gesund ist mein Führungsstil?
Emotionale Unreife bei Leitern ist keine Frage von ganz oder gar nicht; es gibt auch hier Abstufungen und in unterschiedlichen Situationen auch Veränderungen. Die Liste der folgenden Aussagen gibt Ihnen eine Vorstellung davon, wo Sie momentan selbst stehen. Notieren Sie neben jeder Aussage unten Ihre Einschätzung für sich selbst nach folgendem Schema.
5 – Trifft immer zu
4 – Trifft häufig zu
3 – Trifft gelegentlich zu
2 – Trifft selten zu
1 – Trifft nie zu
_____ 1. Ich nehme mir ausreichend Zeit, um schwierige Gefühle wie Ärger, Angst und Traurigkeit zuzulassen, zu spüren und zu bearbeiten.
_____ 2. Ich kann sehen, wie Verhaltensmuster aus meiner Ursprungsfamilie meine Beziehungen heute und mein Führungsverhalten beeinflussen – sowohl positiv wie negativ.
_____ 3. (Für Ehepartner) In der Weise, wie ich meine Kraft und meine Zeit einsetze, zeigt sich, dass meine Ehe – nicht meine Führungsaufgabe – für mich oberste Priorität hat.
_____ (Für Singles) In der Weise, wie ich meine Kraft und meine Zeit einsetze, zeigt sich, dass ein gesundes Leben als Single – nicht meine Führungsaufgabe – für mich oberste Priorität hat.
_____ 4. (Für Ehepartner) Ich erlebe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einssein mit Jesus und dem Einssein mit meinem Partner/meiner Partnerin.
_____ (Für Singles) Ich erlebe einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Einssein mit Jesus und einer engen Verbundenheit mit Freunden und mit meiner Familie.
_____ 5. Egal, wie viel ich zu tun habe, ich nehme mir regelmäßig Zeiten des Alleinseins und Schweigens. Das gehört zu meiner normalen Glaubenspraxis.
_____ 6. Ich nehme mir regelmäßig Zeit zum Bibellesen und Beten, um selbst Gemeinschaft mit Gott zu erleben – nicht nur, um einen Einsatz für andere vorzubereiten.
_____ 7. Ich halte wöchentlich einen Ruhetag – vierundzwanzig Stunden, in denen ich nicht arbeite, mich erhole, mich an den vielen guten Gaben Gottes freue.
_____ 8. Den Feiertag zu halten (heiligen), ist entscheidend – sowohl für mein persönliches Leben als auch für meinen Führungsstil.
_____ 9. Ich nehme mir ausreichend Zeit, vor neuen Planungen oder Entscheidungen im Gebet nach dem Willen Gottes in der entsprechenden Angelegenheit zu suchen.
_____ 10. Ich messe den Erfolg meiner Planungen und Entscheidungen vor allem daran, inwiefern ich Gottes Willen erkannt und umgesetzt habe (und nicht nur an Zahlen wie Gottesdienstbesuch, Vielfalt der Aktivitäten in der Gemeinde oder Spendenaufkommen).
_____ 11. Den Menschen, deren Vorgesetzte(r) ich bin, widme ich regelmäßig Zeit, in der es darum geht, wie ihr Glaubensleben gefördert werden kann.
_____ 12. Schwierigen Gesprächen mit Mitarbeitern über inakzeptables Verhalten oder mangelnde Leistung weiche ich nicht aus.
_____ 13. Es macht mir nichts aus, im Blick auf meine Rolle und die anderer klar über Machtstrukturen zu sprechen.
_____ 14. In Beziehungen, die einen Rollenkonflikt beinhalten, habe ich gesunde Grenzen formuliert und kommuniziert (etwa wenn Freunde gleichzeitig Kollegen sind, Familienmitglieder ehrenamtlich mitarbeiten u. Ä.).
_____ 15. Statt Abschiede und Verluste zu vermeiden, gestalte ich sie bewusst. Sie gehören für mich ganz natürlich dazu, wenn Gott unter uns wirkt.
_____ 16. Ich bin in der Lage, nach reiflicher Überlegung und Gebet, Ideen, Mitarbeiter oder Initiativen aufzugeben, die sich nicht bewähren, und ich kommuniziere das deutlich und mit Empathie.
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um Ihre Antworten zu reflektieren. Was fällt Ihnen als Erstes oder ganz besonders auf? Es gibt zwar keine exakten Werte für die Auswertung dieses Selbsteinschätzungstests. Aber am Ende des Kapitels (siehe hier) finden Sie ein paar allgemeine Hinweise, die Ihnen helfen, besser zu verstehen, wo Sie momentan stehen.
Egal, wo Sie sich wiederfinden, es gibt eine gute Nachricht: Sie können von dort weitergehen. Sie können dazulernen und ein immer besserer und emotional erwachsener Leiter werden. Und das gilt auch noch in fortgeschrittenem Alter. Wir sind auf Veränderung und Wachstum hin angelegt – lebenslang. Lassen Sie sich also nicht entmutigen, falls das Ergebnis ernüchternd ausfällt. Wenn jemand wie ich trotz aller Fehler und gescheiterten Initiativen dazulernen und weiter wachsen konnte, dann kann jeder andere es auch. Wir können uns auf den Weg machen in Richtung emotionaler Reife – und damit auch bessere Führungspersonen werden.1
Vier (unausgesprochene) giftige Gesetze für Gemeindeleiter
Jede Familie hat ihre eigenen „Gesetze“: unausgesprochene Regeln, die bestimmen, was man sagen oder tun darf und was nicht. Als Kinder nehmen wir diese Gesetze unbewusst auf und befolgen die Regeln, nach denen man in unserer Familie das Leben gestaltet. Wenn in unserer Familie Wärme, Sicherheit und gegenseitiger Respekt prägend sind, dann nehmen wir diese Qualitäten in uns auf wie die Luft, die wir atmen. Sie prägen unser Bild von uns selbst und die Weise, wie wir mit der Welt in Kontakt treten. Beherrschen dagegen Kälte, Beschämung, Herabsetzung oder Perfektionismus das Familienklima, nehmen wir ganz automatisch diese Eigenschaften in uns auf und dann prägen eben diese unser Selbstbild und unseren Umgang mit anderen.
Dasselbe gilt auch für die Gemeindefamilie, in die wir hineingeboren werden oder später hineinfinden. Auch hier gibt es jeweils eigene, oft unausgesprochene und nicht selten giftige Gesetze. Auch im Blick darauf, wie man