Emotional gesund leiten. Peter Scazzero
die ich für grundlegend halte und im eigenen Leben und in zwei Jahrzehnten als Mentor für andere als solche erlebt habe. Wer aus einer tief greifenden Veränderung des eigenen Inneren heraus führen möchte, muss
sich seinem eigenen Schatten stellen,
die eigene Ehe bzw. Ehelosigkeit zur Basis seines Führungsverhaltens machen,
Zeit frei machen, um der Liebe Gottes in sich Raum zu geben,
den Ruhetag (Sabbat) feiern.
Eine Organisation aufzubauen, hat viel gemeinsam mit dem Bau eines Wolkenkratzers. Zuerst legt man das Fundament, dann zieht man die Mauern hoch. In unserem Fall ist das Fundament das eigene Glaubensleben. Und die Qualität und Beständigkeit des ganzen Gebäudes – des Teams oder der Organisation, die Sie leiten – hängt davon ab, wie gut und sorgfältig das Fundament gelegt wird.
Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren.
Die Insel Manhattan besteht fast vollständig aus Granit, einem seltenen und sehr harten Gestein. Um einem Gebäude mit 75 oder 100 Stockwerken Standfestigkeit zu geben, verwendet man eine Art Anker im Fundament, sogenannte „Pfosten“ – Stahl- oder Betonpfeiler, die in den Boden getrieben werden, und zwar weit in den felsigen Untergrund.
Bei besonders hohen Gebäude reichen diese Pfosten bis zu 25 Stockwerke in die Tiefe. Das schwere Gewicht des Wolkenkratzers verteilt sich auf viele Pfosten. Wenn die Pfosten ungenau oder nachlässig im Felsboden verankert sind, führt das später zu Rissen am Gebäude. Ein ganzer Wolkenkratzer kann in Schieflage geraten. Dann hilft nur noch, das Ganze einzureißen oder anzuheben, damit die Pfosten neu gesetzt werden können – ein kostspieliges und zeitraubendes Verfahren.
Erwachsene, reife Führungsqualitäten werden im Feuer geschmiedet. Sie werden geformt im Feuer schwieriger Gespräche, unter dem Druck von Beziehungskonflikten, durch den Schmerz von Rückschlägen und das Dunkel der Nacht der Seele. Aus diesen Erfahrungen gehen wir verändert heraus: Wir verstehen die Komplexität unserer inneren Welt ein wenig besser. In dem Maß, wie wir neue Verhaltensmuster und Lebensrhythmen entwickeln, die geeignet sind, unser inneres Leben gegen die Anforderungen unserer Führungsaufgaben zu verteidigen, werden wir ganz natürlich überzeugendere und effizientere Leiter sein.
Beginnen wir also damit, unseren ersten Fundamentspflock in den Boden zu treiben. Stellen wir uns unserem Schatten.
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Sich dem eigenen Schatten stellen
Viele Menschen in Führungsverantwortung sind ständig auf der Suche nach neuen Methoden, Ideen oder Fertigkeiten. Wir sind die Leute, die wissen müssen, was als Nächstes dran ist, warum das wichtig ist und wie wir es bewerkstelligen wollen. Wir müssen sicherstellen, dass die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen. Aber etwas anderes ist viel wichtiger und viel schwieriger: Die erste und schwierigste Aufgabe eines Leiters ist es, sich selbst zu führen. Warum? Weil wir uns dadurch mit Seiten an uns selbst auseinandersetzen, die wir lieber übersehen, vergessen oder nicht wahrhaben wollen. Der Autor Parker Palmer beschreibt diese Tendenz in uns so:
Alles in uns sträubt sich dagegen. Und das ist der Grund dafür, dass wir uns lieber mit äußeren Dingen beschäftigen – das ist viel einfacher. Es ist leichter, sein Leben damit zu verbringen, eine Institution zu manipulieren, als sich mit seiner eigenen Seele zu befassen. Wir reden so, als seien die Institutionen komplex und streng und rigoros, aber verglichen mit unserem Labyrinth-artigen Inneren sind sie ausgesprochen überschaubar.1
Die folgende Geschichte verdeutlicht, wie komplex und herausfordernd es sein kann, sich durch das eigene „innere Labyrinth“ hindurchzuarbeiten und dem eigenen Schatten ins Gesicht zu sehen.
Der Fall Stefan
Stefan ist seit fünf Jahren Pastor einer freien Gemeinde mit derzeit 185 Mitgliedern. In letzter Zeit ist Stefan immer wieder darauf hingewiesen worden, dass er sich im Blick auf Leitungsentscheidungen mehr durchsetzen müsse. Das sagen ihm seine Frau ebenso wie einige Freunde. Stefan sieht das auch so, aber er hat Angst davor, Menschen zu enttäuschen oder zu verärgern. Seine kontaktfreudige, freundliche Art und seine Fähigkeit zuzuhören, täuschen darüber hinweg, dass er auf jede Art von Konflikt allergisch reagiert.
Aber nach fünf Jahren zeigen sich in der Gemeinde die ersten negativen Folgen dieser Konfliktvermeidung. Die Leiterin des Kindergottesdienstes ist unerfahren und reagiert schnell gekränkt, doch weil sie sich für diese Aufgabe angeboten hatte, wollte Stefan sie nicht enttäuschen. Es vergehen keine zwölf Monate, da muss Stefan einen Großteil ihrer Arbeit selbst erledigen. Außerdem hat er immer wieder Unstimmigkeiten zwischen ihr und ihrem Team auszubügeln. Sowohl der Gemeindevorstand als auch einige Eltern hatten Stefan darauf hingewiesen, dass die Leiterin für diese Aufgabe nicht geeignet ist. Jetzt steht ein Riesenproblem im Raum, aber niemand will es ansprechen.
Stefan wollte gern die Gottesdienstangebote verändern und den bisherigen traditionellen 10-Uhr-Gottesdienst früher halten, damit um 11 Uhr noch ein moderner Lobpreisgottesdienst stattfinden konnte. Er hatte sich eigentlich vorgenommen, seine Überlegungen der Gemeindeleitung zu präsentieren, machte dann aber einen Rückzieher, weil er Widerstand von ein oder zwei Ältesten erwartete. Es gab kein Gespräch über die Zukunft der Gemeinde und es änderte sich nichts. Viele junge Leute kehrten der Gemeinde den Rücken.
Stefans Unfähigkeit, Nein zu sagen, andere Meinungen zu ertragen oder auch andere zu enttäuschen, hat ihre Wurzeln in seiner Ursprungsfamilie. Die unausgesprochenen Gesetze, mit denen er aufgewachsen ist, klingen in etwa so:
Verärgere bloß niemanden.
Du bist dafür verantwortlich, dass deine Eltern glücklich sind.
Wenn du traurig oder zornig bist, lass es bloß niemanden merken.
Das hat dazu geführt, dass Stefan die Wahrheit gelegentlich ein wenig zurechtbiegt und sich zu sehr um die Gefühle anderer kümmert. Jetzt wirkt sich dieses schwere Erbe nachteilig auf seine Leitungsaufgabe in der Gemeinde aus.
Als ein Mitglied der Gemeindeleitung Stefan zum Frühstück einlädt, ahnt er nichts Gutes. Und tatsächlich stellt der Mitarbeiter eine unbequeme Frage: „Warum drehen Sie eigentlich die Dinge immer so, dass niemand etwas dagegen sagen kann?“ Stefan empfindet die Frage als Schlag in die Magengrube. Er erkennt nicht, dass sein Mitarbeiter ihm einen echten Gefallen getan hat. Die Frage ist jetzt: Was wird Stefan damit anfangen?
Um die Wurzel seiner ausgesprochenen Konfliktscheu aufzuspüren, wird Stefan sich seinem Schatten stellen müssen, und das ist eine komplexe und anstrengende Angelegenheit. Im Moment ist ihm zwar klar, dass er ein Problem hat, aber er muss erst noch begreifen, wie ernst und wie weitreichend es tatsächlich ist.
Zum Glück finden die meisten Menschen, wenn sie erst einmal verstehen, worum es bei ihrem Schatten geht und dass sie nicht die Einzigen damit sind, den Mut, sich ihrem Schatten zu stellen. Indem sie das tun, entdecken sie zugleich etwas von Gottes Gnade und spüren den Rückenwind des Heiligen Geistes.
Was ist der Schatten?
Unser Schatten, das sind all die unbewältigten Emotionen und nicht ganz uneigennützigen Motive und Gedanken, die uns zwar weitgehend nicht bewusst sind, die aber unser Verhalten dennoch ganz entscheidend beeinflussen. Der Schatten ist die versehrte, aber meist verborgene Version unserer Person.
Der Schatten kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen. Manchmal geschieht das in offenkundig sündhaftem Verhalten, etwa in einem Perfektionismus, der an anderen kein gutes Haar lassen kann, in Ausbrüchen von Jähzorn, Eifersucht, Süchten oder Verbitterung und nachtragendem Verhalten. Etwas subtiler tritt er in einem übertriebenen Bedürfnis zutage, für andere den Retter zu spielen oder von allen gemocht zu werden, in Geltungssucht, Arbeitssucht, Distanziertheit oder übermäßiger Strenge. Manche Aspekte des Schattens können Sünden sein, wir können sie aber auch als Verletzungen oder Schwächen begreifen. Sie treten vor allem dort zutage, wo wir uns vor dem Gefühl zu schützen versuchen,