Emotional gesund leiten. Peter Scazzero
und Jeremiah Abrams. „Er ist gefährlich, unberechenbar, stets im Verborgenen wirksam, als ob das Licht des Bewusstseins ihm regelrecht das Leben nehmen würde.“2
Wie wirkt sich der Schatten auf unseren Führungsstil aus? Sehen wir uns ein paar Beispiele an.
Viele Leiter sind begabte Redner, die Menschen motivieren können. Das ist gut. Die Schattenseite dieser Gabe könnte aber sein, dass jemand von Bestätigung nie genug bekommen kann. Sogar ein öffentliches Eingeständnis von Versagen kann durch ein unbewusstes Verlangen nach Anerkennung motiviert sein. Viele begabte Redner nutzen gerade dieses Talent, um sich vor Nähe in Beziehungen zu schützen.
Wir legen Wert auf Exzellenz. Das ist gut. Der Schatten zeigt sich, wenn unser Qualitätsbewusstsein uns nicht mehr gestattet, Menschen zu akzeptieren, die anderer Ansicht sind. Dann sind wir getrieben von Unsicherheit und Ängsten und müssen uns immer kompetent fühlen und „recht haben“.
Wir wollen, dass die Gemeinde ihre Gaben mit größtmöglicher Wirkung einsetzt. Das ist gut. Der Schatten regiert, wenn wir so darauf versessen sind, bestimmte Ziele zu erreichen, dass wir anderen nicht mehr zuhören können oder wollen, oder wenn wir andere mit unserem Tempo unter Druck setzen. Die verborgene Schattenmotivation kann dann sein, dass wir abhängig sind davon, dass andere unsere Arbeit würdigen.
Dienen hat bei uns einen hohen Stellenwert. Das ist gut. Der Schatten äußert sich vielleicht da, wo jemand bei Gemeindeveranstaltungen nur in der Küche steht und Gespräche mit anderen vermeidet – um damit Nähe und Intimität aus dem Weg zu gehen.
Jemand hat eine neue Aufgabe in einer anderen Stadt übernommen. Das ist gut. Der Schatten regiert, wenn es vor dem Abschied aus dem alten Team zu einem Streit mit bisherigen Kollegen über eine unwichtige Kleinigkeit kommt, die bisher noch nie Thema gewesen ist. Warum? Weil das einfacher ist, als die Trauer über den Abschied zuzulassen und auszusprechen: „Du wirst uns fehlen.“3
Erlauben Sie mir noch ein persönliches Beispiel, bei dem ich leider keine gute Figur mache. Geri und ich hatten ein Gespräch, in dem es um Fragen der Gemeindeleitung ging. Es gab vier oder fünf Punkte auf meiner Tagesordnung. Der erste war der, dass ich Geris Meinung zum neu formulierten Leitbild unserer Gemeinde hören wollte, an dem ich seit über drei Monaten gefeilt hatte. Ich reichte ihr das Papier und sie begann zu lesen. „Lass mich kurz nachdenken … ich bin mir nicht sicher, ob das hier so gut ist.“
Bei diesen Worten spürte ich, wie mein Körper sich anspannte, aber ich versuchte, meinen Ärger zu verbergen. „Das ist eigentlich eine Drei-Minuten-Sache“, sagte ich angespannt. „Ich hatte erwartet, dass du es okay findest. Nicht, dass du eine Generalüberarbeitung vornimmst.“
Geri schwieg, obwohl ihr der Ärger in meinem Ton nicht verborgen blieb. Die Spannung zwischen uns war deutlich zu spüren.
Dann fragte Geri: „Was ist gerade mit dir los? Mir ist aufgefallen, dass du das manchmal auch in Sitzungen so machst. Du fragst Leute nach ihrer Meinung, aber du willst sie gar nicht hören. Das ist nicht gut, Pete.“
Geri war die Ruhe selbst. Ich war das genaue Gegenteil. Etwas in mir hätte sie am liebsten geschüttelt, mich verteidigt oder geschrien. Da war er wieder – ein Aspekt meines Schattens. Ich kannte ihn nur allzu gut.
Ich hatte die Linie zur akuten Sünde noch nicht überschritten, aber ich war kurz davor. Ich schickte ein Stoßgebet zum Heiligen Geist und bat um Selbstbeherrschung und Kraft. Nach ein paar erklärenden Worten bat ich Geri um Verzeihung, dass ich Fragen gestellt hatte, die ich nicht gut durchdacht hatte und die nicht wirklich ernst gemeint waren.
Mir war nur allzu klar, woher meine Ungeduld und sofortige Anspannung kamen: aus meiner Ursprungsfamilie. Als Geri nicht sofort begeistert auf meine Entschuldigung reagierte, fühlte ich mich in die Welt meiner Kindheit versetzt, in der Kritik und Herabsetzung an der Tagesordnung gewesen waren.
Es war schmerzhaft, diesen Schatten so deutlich zu sehen – und bei Weitem nicht zum ersten Mal. Aber jedenfalls war ich dankbar, dass ich ihn überhaupt sehen konnte. Und dankbar für mein gutes Fundament an gesunder biblischer Theologie, das mich daran erinnerte, dass ich mehr bin als mein Schatten.
Wir sind mehr als unser Schatten
Im Blick auf das Thema „Schattenseiten“ und unseren Umgang damit findet man zwei mögliche Extreme in der christlichen Welt. Die erste dieser Extrempositionen besagt: Ich bin durch und durch schlecht. „Ich weiß ja, dass in mir, das heißt in meiner eigenen Natur, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Das entgegengesetzte Extrem lautet: Ich bin durch und durch gut. „Wenn jemand zu Christus gehört, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen; etwas ganz Neues hat begonnen!“ (2 Kor 5,17). In beiden Perspektiven steckt ein Stück Wahrheit, aber wenn wir sie gegeneinander ausspielen, verzerren wir damit die biblische Aussage. Wenn wir angemessen mit dem Problem des Schattens umgehen wollen, müssen wir beide Aussagen in einer gesunden Spannung zueinander belassen.
Die meisten Menschen sind zu jedem denkbaren Zeitpunkt eine Mischung aus diesen Spannungen und Widersprüchen. Nehmen wir mich zum Beispiel. Es gibt Situationen, in denen ich offen und verletzlich bin. In anderen Situationen reagiere ich abwehrend und verschlossen. Ich kann liebevoll sein, aber gelegentlich auch unfreundlich und voller Vorurteile. Ich arbeite hart, um gute Predigten zu halten, aber ich bin träge, wenn ich mich mit neuen Technologien vertraut machen muss. Ich bin gelassen, wenn ich öffentlich sprechen muss, aber reizbar und angespannt, wenn ich unter Zeitdruck gerate. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Gottes Perspektive für uns ist die, dass wir diese widersprüchlichen Seiten unserer Existenz in unser Selbstbild und unsere Selbstwahrnehmung integrieren. Das berührt dann auch unseren Führungsstil. Ja, wir haben einen Schatz, und ja, wir sind ein Schatz. Aber „wir … sind für diesen kostbaren Schatz, der uns anvertraut ist, nur wie zerbrechliche Gefäße“ (2 Kor 4,7).
Wenn wir glauben, dass unser Schatten die eigentliche Wahrheit über uns ist, kann uns das mutlos machen. Hat es dann überhaupt einen Sinn zu versuchen, ihn zu entmachten? Solch eine Haltung hat gravierende Konsequenzen. Wir können unseren Schatten nicht ignorieren, ohne einen hohen Preis dafür zu bezahlen.
Sie wissen, dass Ihr Schatten das Ruder in der Hand hat, wenn Sie …
… überreagieren, sobald Sie unter Druck geraten;
… einem anderen, der Sie verletzt hat, den Erfolg nicht gönnen;
… ausgelöst durch Menschen oder Situationen Dinge sagen, die Sie später bereuen;
… Ehepartner oder Kollegen ignorieren, wenn sie kritische Anmerkungen über Sie oder Ihr Verhalten machen;
… ein bestimmtes Verhalten nicht ändern, obwohl es erkennbar nur negative Folgen hat;
… häufig Emotionen erleben wie Zorn, Eifersucht und Neid;
… Dinge tun und sagen, die nur von Ihrer Angst davor motiviert sind, was andere über Sie denken;
… hektischer arbeiten, wenn Sie unter Druck geraten, statt sich mehr Zeit zur Reflexion zu nehmen;
… dazu neigen, andere zu idealisieren, als hätten sie besondere Gaben von Gott bekommen, und vergessen, dass auch diese Menschen einen Schatten haben wie Sie selbst;
… negativ über Menschen reden, die Sie enttäuscht haben, statt das direkte Gespräch zu suchen.
Wenn wir unseren Schatten ignorieren
Sich dem eigenen Schatten zu stellen, ist eine Aufgabe, die man nicht unterschätzen sollte. Unser Selbstschutzmechanismus kann sehr erfinderisch darin sein, scheinbar berechtigte und einleuchtende Gründe zu finden, um die Auseinandersetzung mit unserem Schatten zu vermeiden. Im Lauf der Jahre habe ich einige zentrale Kategorien benannt, wie diese Vermeidungsstrategien sich äußern: Wir verleugnen das Problem, reden es klein, wir häufen Selbstvorwürfe an oder geben anderen die Schuld, wir finden Gründe für unseren Ärger, verdrängen ihn oder projizieren ihn auf andere. Egal, welchen Abwehrmechanismus wir nutzen – wenn wir unseren Schatten ignorieren, sind die Folgen zerstörerisch.
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