Emotional gesund leiten. Peter Scazzero
suchen und nach seinem Willen zu fragen.
Giftiges Gesetz Nr. 3: Oberflächliche Spiritualität ist okay.
Jahrelang habe ich von Annahmen gelebt. Ich nahm an, dass jeder, der zum Gottesdienst kam und die Bibel und ihre Botschaft kennenlernte – ob nun bei uns oder in anderen Gemeinden – eine Veränderung erleben würde. Ich nahm an, dass unsere begabtesten Lobpreisleiter in ihrem persönlichen Leben ebenso große Leidenschaft für Christus an den Tag legten, wie sie es vor der Gemeinde taten. Ich nahm an, dass jede Pastorin, Gemeindemitarbeiterin, jeder Missionar, Kirchenvorstand oder Bischof regelmäßig etwas dafür tut, die eigene Beziehung zu Jesus zu vertiefen.
Diese Annahmen waren falsch.
Heute lebe ich nicht mehr von Annahmen. Heute frage ich nach.
Ich frage meine leitenden Mitarbeiter und andere Menschen in Leitungsfunktionen danach, was sie tun, um ihre Beziehung zu Gott lebendig zu erhalten. Ich frage etwa: „Erzähl mir was über deinen Tagesablauf. Wie oft nimmst du dir Zeit zum Bibellesen – nur für dich, nicht, um eine Veranstaltung vorzubereiten? Wie viel Zeit hast du allein mit Gott?“ Ich frage danach, wie jemand seine Stille Zeit gestaltet. Je häufiger ich Pastoren und christlichen Führungsleuten in der ganzen Welt diese Fragen stelle, umso besorgter werde ich. Denn die meisten haben keine guten Antworten.
Das Problem ist in den allermeisten Fällen dasselbe: Solange jemand seinen Job macht, ob nun hauptberuflich oder ehrenamtlich, sind alle zufrieden. Wenn die Arbeit floriert, sind wir begeistert. Denn wer sind wir schließlich, dass wir beurteilen könnten, ob die Christusbeziehung eines anderen oberflächlich ist oder zu wünschen übrig lässt? Ja, es stimmt, wir wollen nicht richten. Aber wir wollen urteilsfähig sein. Dass wir die Gaben und Fähigkeiten haben, um Leute anzuziehen und jede Menge Aktivitäten zu entwickeln, heißt noch nicht, dass die Gemeinde oder das Werk, das wir aufbauen, Menschen in eine enge Beziehung zu Jesus bringt.
Gottes Auftrag an Samuel (1 Sam 16,7) gibt mir in dieser Hinsicht zu denken: „Der Herr sprach zu Samuel: … ,Ich urteile nach anderen Maßstäben als die Menschen. Für die Menschen ist wichtig, was sie mit den Augen wahrnehmen können; ich dagegen schaue jedem Menschen ins Herz.‘“ Mit anderen Worten: Es kann uns nicht nur um die äußeren Fakten gehen. Es muss uns um das Herz gehen. Zuallererst um unser eigenes.
Schauen wir in die Geschichte. Im siebten Jahrhundert gab es in Arabien und Nordafrika blühende Gemeinden mit einer reichen Geschichte und Tradition, die bis ins erste Jahrhundert zurückreichte. Sie waren theologisch gebildet, verfügten über weithin bekannte Gemeindeleiter und Bischöfe und übten einen beträchtlichen Einfluss auf die Kultur ihrer Umwelt aus. Und doch gelang es dem Islam in sehr kurzer Zeit, das Christentum in dieser Gegend zurückzudrängen. Die meisten Kirchenhistoriker sind sich darin einig, dass es diesen Gemeinden an geistlichem Tiefgang fehlte und sie deshalb nicht in der Lage waren, der neuen Religion etwas entgegenzusetzen. In den Gemeinden stritt man sich um relativ unwichtige dogmatische Spitzfindigkeiten und war nicht mehr bereit, auch in dem Mitchristen, der eine andere Auffassung vertrat, Christus zu erkennen. Auch hatte man es versäumt, die Bibel ins Arabische, in die Sprache des Volkes zu übersetzen. So kam es, dass die Kirchen zwar voll waren und das Spendenaufkommen stabil, aber die Menschen waren nicht in Jesus gegründet. Weil die Gemeinden kein solides geistliches Fundament hatten, zerbrachen sie angesichts eines kämpferischen, intoleranten Islam erschreckend schnell.
Wie können wir der Verlockung dieses giftigen Gesetzes widerstehen?
Indem wir entschleunigen. Indem wir lernen – zum Beispiel von der kontemplativen Tradition. Von den Schriften der Kirchenväter und -mütter. Und von der ganzen weltweiten Kirche. Von Christen, die vielleicht in mancher Hinsicht anders sind als wir, von denen wir aber viel über Dinge wie Stille, Schweigen und das Dasein in der Gegenwart Gottes lernen können.
Giftiges Gesetz Nr. 4: Nur nicht am Status quo rütteln, solange alles läuft wie gewohnt.
Gegen Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. hatte der Prophet Jeremia den religiösen Führern im Volk Gottes eine unbequeme Botschaft auszurichten: „Die Priester und Propheten betrügen das Volk, weil sie seine tiefen Wunden nur schnell verbinden. ,Es ist nur halb so schlimm, es wird alles wieder gut!‘, sagen sie. Nein, nichts wird gut!“ (Jer 6,14). Ich stelle mir vor, dass die Priester und Propheten damals nicht viel anders waren als wir heute. Sie vermieden Probleme und leugneten, dass es Konflikte gab, weil sie nicht am Status quo rütteln wollten.
Ein paar Jahrtausende später hat sich in dieser Hinsicht nicht viel geändert. Ein zu großer Teil der heutigen Gemeindekultur ist geprägt von Oberflächlichkeit und einer falschen Freundlichkeit. Konflikt bedeutet für uns: Es stimmt etwas nicht. Also tun wir alles, um Konflikte zu vermeiden. Wir ignorieren schwierige Themen und schließen einen falschen Frieden in der Hoffnung, dass jegliche Schwierigkeiten sich schon irgendwie von selbst in Luft auflösen werden.
Aber das tun sie nicht.
Ich habe jahrelang die Augen vor Problemen in meinem Mitarbeiterteam verschlossen, mit denen ich mich sofort und direkt hätte befassen müssen – u. a. Dinge wie schludrige Arbeit, Erreichbarkeit für andere, hartes Reden über andere, Vernachlässigung des persönlichen geistlichen Lebens. Aber wie wir alle musste ich schließlich erkennen: Ich kann das Reich Gottes nicht auf Lügen und So-tun-als-ob aufbauen. Alles, was ich verdrängte, wurde letzten Endes zu einem ausgewachsenen Problem, das viel schwerer zu lösen war als die Situation, aus der es entstanden war. Wenn wir die schwierigen, schmerzhaften Fragen nicht stellen, die wir so gern vermeiden, wird die Gemeinde früher oder später einen viel höheren Preis zahlen.
Der Apostel Petrus war in dieser Hinsicht nicht zimperlich. Selbst mitten in einer Erweckung scheute er die Konfrontation nicht. Als Hananias und seine Frau in der Gemeinde vorgaben, etwas zu sein, was sie nicht waren, stellte er sie sofort zur Rede (Apg 5,1-11). Sie hatten so getan, als hätten sie den gesamten Erlös von ihrem verkauften Grundstück der Gemeinde gegeben, hatten aber einen Teil zurückbehalten. Und als Petrus sie zur Rede stellte, stritten sie es ab. Sie wollten nach außen hin etwas darstellen, was sie in Wirklichkeit nicht waren. Dafür bezahlten sie mit ihrem Leben. Es ist erschütternd, das zu lesen. Aber jeder Christ mit Leitungsverantwortung kann daraus lernen, wie wichtig es ist, Konflikten und schwierigen Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen.
Ich frage mich manchmal, was wohl aus dieser Gemeinde mit 5000 Menschen geworden wäre, wenn Petrus die Lüge hätte durchgehen lassen, um „nicht unnötig Staub aufzuwirbeln“. Wir müssen da zum Glück nicht spekulieren. Dass Petrus sich weigerte, einen falschen Frieden zu tolerieren, legte ein solides Fundament für die Integrität und die Zukunft der Gemeinde.
Verstehen Sie jetzt besser, warum es so wichtig ist, diesem ungeschriebenen giftigen Gesetz nicht zu gehorchen?
Emotional gesund leiten zu lernen, braucht Zeit
„Alles schön und gut“, sagen Sie sich vielleicht. „Und jetzt?“
Der Rest des Buches ist eine Einladung, sich auf den Weg zu machen und eine emotional gesunde Führungspersönlichkeit zu werden – ein Mensch, der in der Lage ist, in dieser Welt ein Werk oder eine Gemeinde mit einer Kultur emotionaler Reife und Gesundheit für Christus aufzubauen. Das ist keine geringe Aufgabe. Es ist zu erwarten, dass Sie gelegentlich Unsicherheit, Ratlosigkeit, Angst oder Trauer erleben werden, wenn Sie sich auf diesen Weg machen. Ich kenne das alles aus eigener Erfahrung. Befürchtungen und Ängste können sich auch in anklagenden oder verunsichernden Stimmen in Ihrem Inneren äußern:
Du weißt doch gar nicht, worauf du dich da einlässt.
Ist dir klar, was passieren könnte, wenn du diesen Weg einschlägst?
Okay, du kannst ja versuchen, emotional erwachsen zu werden. Aber es wird niemanden interessieren.
Mach dir nichts vor: Das wird nicht funktionieren.
Dafür hast du doch im Moment gar keine Zeit. Vielleicht später, wenn die Dinge erst mal in geordneten Bahnen laufen.
Ich kenne diese Stimmen nur zu gut. Beherzigen Sie deshalb meinen Rat: Hören Sie nicht darauf. Gott verlangt nichts anderes von Ihnen, als dass