Emotional gesund leiten. Peter Scazzero
im beruflichen Umfeld durch unseren EQ (Emotionaler Quotient, der Indikator unserer emotionalen Intelligenz) bestimmt sind.4 Für ein effizientes Führungsverhalten von Führungskräften ist die emotionale Intelligenz weitaus wichtiger als andere Faktoren wie IQ, Persönlichkeit, Bildungsstand, Erfahrung und Begabung.5 Diese Tatsache hat weitreichende Konsequenzen im Blick darauf, dass es Gott darum geht, unseren Charakter so zu prägen, dass Christus in uns Gestalt gewinnt. Wenn wir unsere Schattenseiten ausblenden, kann das die besten Möglichkeiten versperren, die unsere Begabung uns eröffnen könnte. Ein eigenes Beispiel: 1996 wurde ich zum ersten Mal mit dem Problem des Schattens konfrontiert. Ich begann, mich damit auseinanderzusetzen, aber es dauerte bis 2007, bis ich ganz verstand, wie sehr sich mein Schatten auf mein Führungsverhalten auswirkte. Die Blockade zerbrach erst, als ich bereit war, mich mit den verborgenen Motiven auseinanderzusetzen, die mich antrieben – Schattenmotive. Besonders deutlich wurden sie in meinem Umgang mit meinen Mitarbeitern und wenn es um Personalentscheidungen ging. Nach und nach erkannte ich drei Hauptprobleme:
Wertschätzung und Anerkennung. Wenn ich den Gottesdienst leitete und predigte, bekam ich viel positive Rückmeldung. Die Leute wollten mit mir reden. Sie sagten lauter freundliche Dinge. Aber wenn ich unbequeme Wahrheiten aussprach oder schwierige Entscheidungen traf, die nicht alle mittragen konnten, rückten sie von mir ab. Hinter meinem Rücken redeten sie schlecht über mich (meistens allerdings nur in meiner Fantasie).
Etwas in mir wollte verzweifelt verhindern, dass Menschen von mir abrückten. Auch das hat seine Wurzeln in meiner Ursprungsfamilie. Meine Eltern verfügten nicht über die emotionalen Ressourcen, ihren vier Kindern den Rückhalt zu geben, den sie gebraucht hätten. Die Folge war: Ich lebte seit meiner Kindheit mit einem emotionalen Defizit und einem tiefen Bedürfnis nach Bestätigung und Annahme. Erst als ich verstand, dass zwischen diesem Mangel an Bestätigung in meiner Kindheit und meinem inneren Zwang zu verhindern, dass Menschen sich von mir distanzierten, ein Zusammenhang bestand, konnte ich – jedenfalls teilweise – verstehen, warum ich immer wieder schwierigen Gesprächen auswich. Das Problem war bereits so groß, dass es nicht nur mich persönlich betraf, sondern die Gemeinde negativ beeinflusste.
Aufrichtigkeit und Lüge. Unsere Gemeinde war zu diesem Zeitpunkt bereits ein komplexes Gebilde mit zwanzig hauptamtlichen Mitarbeitern. Meine Stärken waren mir klar: Predigen, Lehren, Visionen Entwickeln. Weniger gut bin ich in administrativen Dingen, Budgetverwaltung, Personalangelegenheiten und detaillierter Strategieplanung. Ich konzentrierte mich auf das, was ich gut konnte, und blendete die anderen Aufgaben, die mir nicht so lagen, so weit wie möglich aus.
Aber damit war ich unaufrichtig – mir selbst, meinen Mitarbeitern und auch der Gemeinde gegenüber. Ich gab kein ehrliches Feedback, wenn etwas zu kritisieren war, damit sich niemand schlecht fühlte. Ich vermied es, die schwierigen Fragen zu stellen, weil ich Angst hatte vor den möglichen Antworten. Ich vermittelte den Eindruck, dass die Dinge besser liefen, als es tatsächlich der Fall war. Ich gab den Anschein, alles liefe zu meiner Zufriedenheit, obwohl es nicht so war.
Selbstzweifel im Blick auf meine eigene Führungskompetenz. Seit 1923 betreibt meine Familie eine italienische Bäckerei in New York. Bis heute ist der Laden chaotisch und schlecht geführt. Die Botschaft, die ich daraus mitnahm, lautet: Die Scazzeros können gut reden (übertreiben und ausschmücken, um andere mitzureißen), aber nicht gut organisieren. Und damit entschuldigte ich mein Versagen im Blick auf die organisatorische Leitung meiner Gemeinde. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass sich das ungeschriebene Familiengesetz von Chaos und Desorganisation eventuell verändern ließe. Ich hörte praktisch ständig die Stimme meiner Mutter: „Das kannst du nicht. Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt.“
Wie viele andere Pastoren auch stürzte ich mich auf das, was mir lag, statt gerade meinen Schwachpunkten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es war leichter, eine Extrabibelstunde über die Offenbarung anzubieten, als mich mit Personalfragen, Budget und Supervisionsterminen zu befassen. Kurzfristig besänftigte ich damit meine Anspannung, aber langfristig verstärkte ich sie. Was war die Folge? Im Lauf der Zeit sabotierte mein Schatten sogar meine Stärken und Begabungen als leitender Pastor.
Der Schatten schränkt unsere Fähigkeit ein, anderen zu dienen
In dem Maß, wie wir unseren eigenen Schatten erkennen und uns damit auseinandersetzen, können wir andere dazu befreien, dasselbe zu tun. Ich konzentriere mich nicht darauf, die Schattenseiten an anderen zu entdecken, aber ich erkenne sie zunehmend rascher. Wieso? Weil ich meine eigenen Schattenseiten kenne.
Eine Geschichte über die Wüstenväter erzählt von einem Mönch aus dem 4. Jahrhundert, einem Johannes Kolobos.
Als er einmal vor der Kirche saß, scharten sich die Brüder um ihn im Kreise und fragten ihn über ihre Gedanken. Das sah ein Altvater und von Neid angestachelt sagte er zu ihm: „Johannes, dein Becher ist voll Gift.“
Johannes antwortete: „So ist es Vater! Und das hast du gesagt, obwohl du nur das Äußere siehst, wenn du erst das Innere sähest, was hättest du dann zu sagen!“6
Johannes reagiert nicht abwehrend. Er greift den anderen nicht an und schlägt auch nicht verbal um sich, um das Gespräch von sich selbst abzulenken. Er steht zu seiner Verletzlichkeit und zu dem, was er von sich selbst weiß. Wie Paulus spricht er von sich selbst als „dem größten aller Sünder“ (1 Tim 1,16). Emotionale und geistliche Reife zeigt sich unter anderem daran, inwieweit jemand zur Realität und zum Ausmaß des eigenen Schattens stehen kann.
Wenn wir andere Menschen gut und effektiv führen wollen, müssen wir uns dieser schlichten, harten Tatsache stellen: In dem Maß, in dem wir unseren eigenen Schatten ignorieren, begrenzen und behindern wir auch einen wirksamen Dienst an anderen im Geist der Liebe. Das folgende Beispiel verdeutlicht diesen Zusammenhang:
Ich denke an Charly – einen sehr begabten jungen Mann mit einem Top-Studienabschluss und einem beachtlichen Lebenslauf. Charly ist charismatisch, redegewandt und kreativ. Er hat Gedichte veröffentlicht, ist ein viel gefragter Konferenzredner. Charly stammt aus einer ländlichen Kleinstadt, in der ihn heute jeder wegen seines Erfolgs im großen New York bewundert. Alle dort sind stolz auf ihn. Aber wenn wir im Hauskreis zusammensitzen und es um persönliche Dinge geht, klingen die Beiträge von Charly irgendwie steril, hohl, leer.
Nachdem wir im Hauskreis über die Problematik des Schattens gesprochen hatten, suchte ich das Gespräch mit ihm. „Charly“, sagte ich, „ich habe den Eindruck, dein ganzes Leben dreht sich darum, was du darstellst – als Redner, Autor, Dichter, Rapper, als jemand, der es geschafft hat. Aber ich frage mich: Wer bist du eigentlich wirklich … hinter all diesen Rollen?“
Er schwieg lange. Dann sagte er leise: „Ich weiß es nicht, Pete.“
Ein paar Wochen später trafen wir uns wieder. Charly erzählte, dass er sich sehr mit seinem familiären Hintergrund und dessen Auswirkungen auf sein Leben beschäftigt hatte. Ihm war deutlich geworden, dass er eine Hochglanz-Version seines Lebens konstruiert hatte. Dann sagte er: „Und dann hatte ich den Eindruck, dass Gott mich vor eine Wahl stellt. Ich kann meine Geschichte schönschreiben und aufpolieren und noch mehr als Strahlemann rüberkommen. Oder ich kann zulassen, dass Gott mich heilt und erneuert … Und dafür habe ich mich entschieden. Ich glaube, es wirkt sich schon aus. Ich schreibe anders. Ich spreche anders. Ich weiß noch nicht, wohin das führt. Aber es fühlt sich sehr gut an.“
Der Schatten macht uns blind für den Schatten der anderen
In seinem Buch Dynamik des Todes bemerkt der Kulturanthropologe Ernest Becker, dass Menschen ein universales Bedürfnis nach Heldenfiguren haben, die weniger hilflos oder beschädigt sind als wir selbst. Figuren, denen Gott irgendwie zuzulächeln scheint, die er mit besonderen Gaben, Weisheit und Intelligenz ausstattet. Figuren, die über die Härten des Lebens triumphieren. Figuren, die uns mit ihrer unerschütterlichen Selbstsicherheit blenden.
Wenn wir uns weigern, uns mit unserem eigenen Schatten auseinanderzusetzen, werden wir entweder blind für die Schattenseiten der anderen oder wir rechnen nicht mehr damit. Das führt dazu, dass wir andere idealisieren, als hätten sie keinen Schatten. Als Konsequenz fühlen wir uns selbst schlecht und fallen in den Sumpf morbider Grübelei über unsere eigenen Fehler, indem das Gewicht unseres Schattens uns immer weiter