Emotional gesund leiten. Peter Scazzero

Emotional gesund leiten - Peter  Scazzero


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in diesem Fall vergessen wir, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die einen Schatten haben und die sich ebenso verletzlich und unvollkommen fühlen wie wir auch. Wir sollten uns aber daran erinnern, dass wir alle nur „homo sapiens, Standardausgabe“ sind, wie Becker schreibt.7

      Jesus war sich durchaus im Klaren darüber, dass seine Jünger alle einen Schatten mit sich herumtrugen. Nach der Tempelreinigung, als viele Menschen ihm folgten, berichtet das Evangelium: „Jesus blieb ihnen gegenüber zurückhaltend, denn er … wusste genau, wie es im Innersten des Menschen aussieht“ (Joh 2,24). Er wusste: Der Glaube allein befreit uns noch nicht von unserem Schatten. Wir brauchen uns nur Petrus anzusehen – diesen Jünger, der überzeugt erklärt hatte, Jesus sei der Messias, und ihn kurz darauf dreimal verleugnete.

      Wir sollten uns also darüber im Klaren sein, was es für negative Folgen haben kann, wenn wir unseren Schatten ignorieren. Wenn wir uns hingegen entscheiden, Gott und seinen Weisungen zu folgen, zieht das viel Gutes nach sich.

      Was wir gewinnen, wenn wir uns dem Schatten stellen

      Gott stellt uns wunderbare Gaben in Aussicht, wenn wir den Mut aufbringen, uns unserem Schatten zu stellen. Und mit wunderbar meine ich: schmerzhaft, aber lohnend – „harte Gnaden“ sozusagen. Auch wenn der Gedanke uns zunächst Angst einjagt: Sobald wir uns auf den Weg machen und unserem Schatten ins Gesicht sehen, merken wir, dass Gott genau dort auf uns wartet und uns mindestens zwei wunderbare Geschenke macht.

      Die verborgene Macht des Schattens wird gebrochen

      Eine der wichtigen Wahrheiten des Lebens lautet: Was man nicht annimmt, kann man nicht verändern. Aber wenn wir unseren Schatten annehmen – mit seinen Wurzeln und Ausdrucksformen –, dann verringert sich seine Macht über uns. Sie kann sogar ganz gebrochen werden. Der erste und wichtigste Schritt dahin ist der, dass wir unseren Schatten ins Licht Jesu stellen.

      Paulus war einer der brillantesten Köpfe seiner Zeit. Als Apostel, Prophet, Evangelist, Pastor und Lehrer war er ein begnadeter Leiter. Gott schenkte ihm außergewöhnliche Visionen und Offenbarungen. Trotz Verfolgung, Todesdrohungen und ständig schwieriger Umstände war sein Erfolg als Gemeindegründer im Römischen Reich unübertroffen. Aber die intensive Gegnerschaft und die Verantwortung für die jungen Gemeinden stellten für Paulus sicher auch eine Prüfung dar. Wir wissen nicht, wie Paulus’ Schatten aussah, aber ich könnte mir vorstellen, dass er vielleicht stur war und dazu neigte, anmaßend, intolerant und gewalttätig zu sein (wenn man sich ansieht, wie er zunächst die Gemeinde verfolgte).

      Paulus redet offen von dem „Stachel“, einem Leiden, das Gott ihm zumutet (2 Kor 12,7). Was das genau war, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass es Paulus belastete und entmutigte. Aber es hatte auch eine positive Seite: Paulus lernte, aus Schwäche und Verletzbarkeit heraus zu führen. In diesem Sinn war es ein Geschenk – eine Weise, wie Gott ihm half, sich seinem Schatten zu stellen und dessen Macht zu brechen. Paulus selbst beschreibt das Paradox, dass eine Schwäche ihm zur Stärke wird:

      Dreimal habe ich deswegen zum Herrn gebetet und ihn angefleht, der Satansengel möge von mir ablassen. Doch der Herr hat zu mir gesagt: „Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung.“ Daher will ich nun mit größter Freude und mehr als alles andere meine Schwachheiten rühmen, weil dann die Kraft von Christus in mir wohnt. Ja, ich kann es von ganzem Herzen akzeptieren, dass ich wegen Christus mit Schwachheiten leben und Misshandlungen, Nöte, Verfolgungen und Bedrängnisse ertragen muss. Denn gerade dann, wenn ich schwach bin, bin ich stark. (2Kor 2,8-1).

      Paulus schämte sich nicht für seinen Schatten. Er brüstet sich geradezu – durchaus angemessen – damit, weil er so durchlässig wird dafür, dass die Macht und das Leben Jesu durch ihn hindurchfließen.

      Meine Erfahrung ist ganz ähnlich. Als ich erst einmal meine Schattenseiten erkannt hatte – meine Gier nach Anerkennung, meine Unaufrichtigkeit, meine Selbstzweifel im Blick auf mein Führungspotenzial –, konnte ich ihnen entschlossen etwas entgegensetzen. Ich beschloss, diesen Tendenzen in mir nicht mehr nachzugeben. Gegenüber ein paar Menschen, die mir nahestehen, benannte ich sie ganz konkret. Und ich führte mir alle Gaben und Stärken vor Augen, die Gott mir geschenkt hat, ähnlich wie David es gegenüber Saul und für sich selbst tat (1 Sam 17,36 f.). Ich erinnerte mich an alle kleinen Siege, die ich schon errungen hatte, und daran, wie oft ich Gottes Treue und Macht bereits erlebt hatte.

      Außerdem suchte ich mir erfahrene Mentoren und Berater, die mir halfen, meine Schwachstellen zu verbessern – Personalfragen, Strategieplanung, Budgetplanung, das Management von großen Projekten usw. Das alles brauchte Zeit, die ich jetzt bewusst einplante. Es war ein mühsamer Prozess, sowohl für mich als auch für die Gemeinde, aber er hat die Dinge zum Besseren verändert. Immer wieder musste ich meine Hausaufgaben machen, bis mir die ungeliebten Aspekte meines Jobs leichterfielen. Und indem ich das tat, nahm die verborgene Herrschaft des Schattens in meinem Leben und meinem Führungsstil ab und wurde schließlich besiegt.8

      Wir entdecken den Schatz, der sich im Schatten verbirgt

      Durch den Propheten Jesaja verkündet Gott: „Die verborgenen Schätze und die versteckten Reichtümer gebe ich dir“ (45,3). Dieses Versprechen gilt auch uns, wenn wir die Dunkelheiten unserer Schattenseiten aufsuchen und zulassen, dass diese ungeliebten Seiten unserer Persönlichkeit zu Werkzeugen werden, die unseren Dienst für Gott bereichern. Das Leben von Abraham Lincoln ist dafür ein Zeugnis.

      Lincoln hatte von Jugend an mit Depressionen zu kämpfen, zeitweilig war er selbstmordgefährdet und in seinen Zwanzigern und Dreißigern erlitt er mehrere Zusammenbrüche. Als Anwalt musste er mehr Niederlagen einstecken, als er Siege errang. Als er schließlich Präsidentschaftskandidat war, verlachte man ihn als Hinterwäldler und Schande für die Nation. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft waren Rückschläge und gescheiterte Projekte Stoff für zynische Kommentare. Sein Lieblingssohn starb mit elf Jahren; Lincoln war am Boden zerstört. Am Ende des Bürgerkrieges (1865), den Lincoln mit zu verantworten hatte, gab es wohl keine Familie im Land, die keinen Toten zu beklagen hatte.

      Trotzdem durchlief Lincoln in dieser Zeit eine erstaunliche persönliche und geistliche Entwicklung. Er verkündete öffentlich, dass Gott im Bürgerkrieg nicht Partei ergriff, dass der Krieg vielmehr eine Folge der Sünde der Sklaverei sei. Er rief nationale Gebetstage aus. Nach dem Ende des Krieges arbeitete er für die Versöhnung zwischen ehemaligen Kriegsgegnern.

      Wie war das möglich? Dazu schreibt ein Biograf:

      Viele haben schon beschrieben, dass Lincoln gegensätzliche Eigenschaften in sich vereinigte. … er war unstetig, aber stark wie ein Drahtseil, das zwar im Sturm umhergeschleudert wird, aber sich hartnäckig bis zum Äußersten spannt … Lincoln hat Gegensätze nicht nur in sich vereint – Selbstzweifel und Vertrauen, Hoffnung und Verzweiflung –, er hat sie in sich versöhnt und so etwas Neues und Wertvolles hervorgebracht. Und hier liegt der Schlüssel für die kreative Art seiner Präsidentschaft – und zugleich eine Lektion für uns alle. Ein gutes Leben zu leben erfordert oft, dass wir ein Bündel von Kontrasten zu einem neuen Ganzen verbinden, das Bestand hat.9

      Was immer Lincolns Schatten war, eines ist deutlich: Seine Bereitschaft, sich ihm rückhaltlos zu stellen und alle Anteile seiner Person zu integrieren, hat es ihm ermöglicht, seinem Land in Zeiten großer Gefahr und drohender Spaltung zu dienen und eine Nation zu führen. Er musste seine Gegner nicht verteufeln oder die Nation in Helden und Schurken einteilen. Er hatte gelernt, diese Spannung in sich selbst auszugleichen. Heute gilt er vielen als der größte Präsident, den die USA je hatten.

      Wir sind nicht Abraham Lincoln, aber wir können ihm insofern folgen, als wir uns entscheiden, unserem Schatten nicht auszuweichen. Denn wir haben nur zwei Möglichkeiten: ihn so lange zu ignorieren, bis wir vor die Wand laufen und der Schmerz uns dazu zwingt, uns ihm zu stellen. Oder wir lassen es nicht erst so weit kommen und stellen uns unseren Schattenseiten. Wir können erkennen, welche Faktoren zu ihrer Entstehung beigetragen haben.

      Vier Wege, sich dem Schatten zu stellen

      In der Geschäftswelt ist es mittlerweile üblich, dass Firmen ihre Führungskräfte auf dem Feld emotionaler Intelligenz fortbilden, um die möglichen negativen Auswirkungen zu minimieren,


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