Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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soll­te auch das The­ma für die nächs­te schrift­li­che Ar­beit sein. Die nächs­te Ar­beit? Gro­ßer Gott, wie fern lag die! Die nächs­te Ar­beit? – Also in ei­ner Zeit, da der Ball längst vor­über sein wird. Nach dem Ball! Das war eine Zeit­rech­nung, die kei­ner be­griff. Ma­ri­an­ne Schulz riss ihre Au­gen auf, als Fräu­lein Schank die Auf­ga­be für den fol­gen­den Tag stell­te. Das Wort »Die Ge­sell­schaft«, das Fräu­lein Sal­ly so groß­ar­tig aus­zu­spre­chen ver­stand, er­füll­te Ma­ri­an­ne mit an­däch­ti­ger Freu­de. Sie, die kaum an den großen Au­gen­blick zu den­ken wag­te, in dem sie wirk­lich das wei­ße Mus­se­lin­kleid und den grü­nen Gür­tel wür­de an­le­gen dür­fen, sie soll­te an einen Tag glau­ben, da al­les vor­über sein wür­de? Das konn­te sie nicht, Fräu­lein Schank dünk­te ihr eine Kas­san­dra, die un­heim­li­che, trau­ri­ge Schick­salss­prü­che in die Welt hin­aus­ruft.

      Nun – und dann war er da, die­ser große, be­se­li­gen­de Abend.

      Der Kron­leuch­ter des Lan­in­schen Saa­l­es strahl­te. Der Estrich war wohl­ge­bohnt. Die Stie­gen prang­ten im Schmuck der Gir­lan­den, die den Ein­tre­ten­den mit dem an­ge­neh­men Fest­duft wel­ken­der Krän­ze um­weh­ten. Fräu­lein Sal­ly, in ei­nem blau­en Tar­la­tan­klei­de, stand re­gungs­los un­ter dem Kron­leuch­ter und harr­te ih­rer Gäs­te. Sie leg­te einen Fin­ger an die Lip­pen und wand­te den Kopf zu­rück, mit der zar­ten An­mut je­ner Da­men in den Mo­de­blät­tern, un­ter de­nen »Rück­sei­te der Ball­toi­let­te« zu le­sen ist.

      Rosa war die ers­te, die in den Saal trat. Ja, sie trug das wei­ße Ein­seg­nungs­kleid; aber ei­ni­ge rote Hau­ben­bän­der aus dem Nach­lass des Fräu­lein Ina ga­ben ihm ein neu­es, bun­tes An­se­hen. Und dann – die­ses kind­li­che Kleid, in dem Rosa fromm und an­däch­tig vor dem Al­tar ge­stan­den, es war so­weit ver­welt­licht, dass es ihr Hals und Schul­tern frei ließ. Die Haa­re bil­de­ten über dem Schei­tel einen Strauß von Löck­chen, und mit­ten in ih­nen saß eine rote Ka­me­lie, auf der sich eine blaue Li­bel­le wieg­te. Dass das Rot der Ka­me­lie ein we­nig ver­gilbt war, dass der Li­bel­le ein Flü­gel fehl­te – wer sah das? – au­ßer Fräu­lein Sal­ly, die mit ei­nem Blick alle Män­gel des An­zugs ih­rer Freun­din her­aus­ge­fun­den hat­te. Män­gel wa­ren ge­nug da; den­noch woll­te es Fräu­lein Sal­ly schei­nen, als sei der Tri­umph des blau­en Tar­la­tan über den wei­ßen Mus­se­lin nicht voll­stän­dig. In Ro­sas An­zug lag et­was Ge­woll­tes, Küh­nes, et­was, das man an Schank­schen Schü­le­rin­nen nicht ge­wohnt war. Statt des In­be­griffs ei­ner Ball­toi­let­te, statt des wei­ßen Klei­des, der ro­sen­far­be­nen Schär­pe und dem Ro­sen­kranz auf dem glatt­ge­schei­tel­ten Haar hat­te die­ses Kleid, das so weit von den Schul­tern her­ab­fiel, hat­ten die ro­ten Bän­der, die ni­cken­den Lo­cken, hat­te al­les in Fräu­lein Sal­lys Au­gen das Über­ra­schen­de und Aben­teu­er­li­che ei­nes Mas­ken­an­zu­ges. Es war un­schick­lich, ja! – und doch…

      »Ah! Rosa! Schön, dass du die ers­te bist«, rief Fräu­lein Sal­ly und lä­chel­te, als wür­den auch ihre Lip­pen von ei­nem zu en­gen Schnür­leib be­drückt. »Ich mein­te, ich könn­te dir hel­fen«, er­wi­der­te Rosa. Sie küss­ten sich, lang­sam die Köp­fe zu­ein­an­der nei­gend – vor­sich­tig – um die Klei­der nicht zu zer­knit­tern. Dann gin­gen sie, mit klei­nen Schrit­ten, ne­ben­ein­an­der auf und ab, weh­ten sich Küh­lung mit den Ta­schen­tü­chern zu und un­ter­hiel­ten sich höf­lich – kur­ze Sät­ze, bei de­nen die Bli­cke zer­streut im Ge­mach um­her­irr­ten. Fräu­lein Sal­ly er­klär­te die Ein­rich­tung: »Hier das Da­men­zim­mer. Sehr gut – nicht wahr? – – Hier das Zo­fen­zim­mer –; du weißt, je­mand tritt ei­nem auf die Schlep­pe – ein Band – oder so­was… eine Zofe ist im­mer nö­tig.« Das Zo­fen­zim­mer war ziem­lich düs­ter, nur eine Ker­ze brann­te in dem­sel­ben. Zwei Zo­fen wa­ren be­reits da. Ag­nes Stock­mai­er und Fräu­lein Sul­ler, die Wirt­schaf­te­rin der Lan­ins. Sie sa­ßen vor ih­ren Kaf­fee­tas­sen, steck­ten die grei­sen Köp­fe zu­sam­men und plau­der­ten lei­se. »Gut?« frag­te Fräu­lein Sal­ly.

      »Ja, o ja!« er­wi­der­te Rosa, ob­gleich es ihr schi­en, als habe die­ses Ge­mach, mit sei­ner tief bren­nen­den Ker­ze, mit den bei­den alt­be­kann­ten Ge­sich­tern, et­was All­täg­li­ches an sich, das zu dem großen Abend nicht recht stim­men woll­te. Sie hat­te sich ein Zo­fen­zim­mer doch an­ders ge­dacht.

      Die Gäs­te ka­men. Ein Flüs­tern, ein Rau­schen der Män­tel und Tü­cher – dann zo­gen sie ein in lan­gen Rei­hen, die Da­men in wei­ßen Klei­dern mit bun­ten Bän­dern. Run­de Krän­ze la­gen auf den spie­gelblan­ken Lo­cken; die Hän­de, in wei­ßen Hand­schu­hen, drück­ten sich fest an den Gür­tel. Eine Schar Kon­fir­man­den, die mit den wei­ßen Klei­dern auch die fei­er­lich erns­ten Ge­sich­ter an­ge­legt hat­ten. Un­si­cher trip­pel­ten sie über den glat­ten Fuß­bo­den und blin­zel­ten zum Kron­leuch­ter auf. Hin­ter ih­nen die Müt­ter in dunklen Sei­den­ro­ben. Freund­li­che Ge­sich­ter, die aus großen Spit­zen­hau­ben her­vor­lä­chel­ten. End­lich die Her­ren – sehr kor­rekt in schwar­zen Frä­cken und mit stark ge­öl­tem Haar. Schü­ler gin­gen Arm in Arm im Saal um­her, stie­ßen sich in die Sei­te und ki­cher­ten. Hand­lungs­die­ner stell­ten sich an die Wand und mach­ten Ver­beu­gun­gen. Herr Klappe­kahl er­schi­en mit sei­ner Toch­ter Er­nes­ti­ne, ei­nem großen blon­den Mäd­chen, das nicht mehr die Schu­le be­such­te, ein gel­bes Schlepp­kleid, einen Veil­chen­kranz und einen Fä­cher trug. Herr La­nin, ein Stück Or­dens­band im Knopf­loch, be­grüß­te sei­ne Gäs­te wohl­wol­lend und wür­dig, wäh­rend sei­ne Gat­tin – in grau­er Sei­de – mäch­tig und lie­bens­wür­dig grü­ßend durch die Men­ge schritt. An­fangs gab es ein stei­fes, un­be­hag­li­ches Um­her­ste­hen, bis Fräu­lein Sal­ly die Da­men zu den Sit­zen nö­tig­te, ei­ni­ge bei den Hän­den nahm und sie zu den Stüh­len führ­te – mit ei­ner Mie­ne, auf der deut­lich die Pf­licht­er­fül­lung zu le­sen war. Die Müt­ter setz­ten sich auf So­fas und be­gan­nen ihre Ge­sprä­che über Dienst­bo­ten; Ge­sprä­che, die den Töch­tern eine Pro­fa­na­ti­on des Abends dünk­ten. Herr La­nin klopf­te dem Dok­tor auf den Rücken und for­der­te ihn zu ei­ner Par­tie auf; »wäh­rend die Ju­gend hüpft« – und sie ta­ten bei­de der Ju­gend leid. Klappe­kahl blieb im Saal. Mit knar­ren­den Stie­feln ging er zwi­schen den Da­men um­her, lach­te, scherz­te – mit rit­ter­li­chen Be­we­gun­gen ei­nes al­ten Sa­lon­hel­den –, steck­te sein Ge­sicht noch zu den er­rö­ten­den Mäd­chen­ge­sich­tern und wei­ßen Kin­der­schul­tern und er­götz­te sich als raf­fi­nier­ter Groß­städ­ter an all den auf­blü­hen­den Frau­en­rei­zen. Rosa stand mit­ten im Saal und sprach mit Her­weg über die Hit­ze des heu­ri­gen Som­mers: je­doch Am­bro­si­us’ Aus­blei­ben be­un­ru­hig­te sie. End­lich kam er. Spät – na­tür­lich! Er hat­te einen Spa­zier­gang ge­macht, der Abend war so schön! Sein An­zug war un­ta­del­haft. Wie eine wei­ße Rüs­tung wölb­te sich die Wä­sche aus der weit­aus­ge­schnit­te­nen Wes­te her­vor. Die Lo­cken glänz­ten und duf­te­ten zu bei­den Sei­ten des Schei­tels. Er fä­chel­te sich Luft mit sei­nem Hute zu sprach mit den Müt­tern. Oh, er war be­wun­de­rungs­wür­dig mit sei­ner hei­te­ren, un­be­fan­ge­nen Ruhe in die­sem Au­gen­blick, der alle an­de­ren mit an­däch­ti­ger Steif­heit er­füll­te!

      Er­fri­schun­gen wa­ren ge­reicht wor­den. Die Da­men wisch­ten sich zart die Fin­ger­spit­zen an ih­ren Ta­schen­tü­chern und sa­ßen ge­ra­de da. Der Tanz soll­te be­gin­nen; es war je­doch nicht


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