Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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Rei­he der äl­te­ren Leu­te ward im­mer stil­ler und re­gungs­lo­ser, stumm sa­ßen die Müt­ter da – ver­dros­se­ne Ka­rya­ti­den des An­stands. Plötz­lich er­hob Fräu­lein Schank ihre schar­fe Stim­me: »Lie­be Mut­ter! Es ist wirk­lich ge­nug. Be­den­ken wir, mor­gen ist kein Fei­er­tag.« – Eine all­ge­mei­ne Ent­rüs­tung mach­te sich Luft. »Was un­ter­steht sich die­se Per­son in mei­nem Hau­se«, flüs­ter­te Fräu­lein Sal­ly mit fun­keln­den Au­gen. Ein großes Ge­tüm­mel ent­stand um das Kla­vier und Fräu­lein Schank. Rosa stand ru­hig am Fens­ter. Sie wuss­te es wohl, die­ser merk­wür­di­ge Abend konn­te nicht – so ohne wei­te­res – zu Ende sein, nur weil mor­gen Schul­tag war. Nein! Aber was konn­te noch ge­sche­hen? Am­bro­si­us trat ei­lig an sie her­an und sag­te lei­se: »Jetzt – dort durch jene Tür.« Rosa ver­stand ihn nicht, er aber zog die Stir­ne kraus und wie­der­hol­te hef­tig: »Dort durch jene Tür – durch den Flur.« Rosa senk­te den Kopf und ging auf den Flur hin­aus. Die Türe zur Stra­ße hin stand of­fen, und der Mond warf einen brei­ten gel­ben Streif auf die feuch­ten Stei­ne des Fuß­bo­dens. Ein kal­ter Luft­zug ström­te her­ein, und man hör­te den wei­chen Ton ei­ni­ger Trop­fen, die vom Dachran­de auf das Pflas­ter fie­len. Zit­ternd stand Rosa da und be­deck­te mit den Ar­men ihre hei­ßen Schul­tern. Was soll­te ge­sche­hen? Sie hör­te Schrit­te ne­ben sich. Am­bro­si­us war ihr ge­folgt und zog sie zur ge­gen­über­lie­gen­den Türe, die er auf­s­tieß. Sie stan­den in ei­nem fins­tern Rau­me. An dem Ge­würz- und Fisch­ge­ruch er­kann­te Rosa den La­den. Am­bro­si­us tapp­te durch das Ge­mach – schob et­was – räus­per­te sich; plötz­lich fie­len Mond­strah­len in die Nacht durch ein klei­nes Fens­ter, von dem Am­bro­si­us eben den La­den ent­fern­te, und die­ses Licht, wie es so durch die en­gen, ver­staub­ten Schei­ben drang, er­schi­en selbst grau und ver­küm­mert. Nun mach­te sich Am­bro­si­us mit der Licht­kis­te zu schaf­fen, rück­te sie aus ih­rer Ecke her­aus, be­frei­te sie vom Staub, schob sie hin und her – ge­schäf­tig und ernst – mit der pein­li­chen Lang­sam­keit trä­ger Leu­te, die mit großem Zei­t­auf­wand al­les für eine Ar­beit vor­be­rei­ten, an die sie un­gern ge­hen. »So – den­ke ich, wird es gut sein«, ver­setz­te er end­lich. Dann blick­te er zu Rosa hin­über und sag­te un­si­cher: »Kom­men Sie.« Rosa fürch­te­te sich, am liebs­ten wäre sie da­von­ge­lau­fen, und doch hät­ten die Neu­gier und der Durst nach Er­leb­nis­sen die­ses ver­we­ge­ne Mäd­chen be­wo­gen, in noch wun­der­li­che­ren Au­gen­bli­cken aus­zu­har­ren. So setz­te sie sich auch jetzt lang­sam auf die Licht­kis­te und saß – mit dem scheu er­war­tungs­vol­len Blick ei­nes Kin­des, das ge­schol­ten wer­den soll – auf­recht da. Sie be­deck­te noch im­mer ihre Schul­tern mit den Hän­den, und den Kopf ge­senkt, blick­te sie auf das gel­be, blas­se Licht her­ab, das auf dem Fuß­bo­den zit­ter­te. »Rosa – hm –«, be­gann Am­bro­si­us lei­se, müh­sam die Wor­te su­chend, als habe er ge­wusst, was er sa­gen woll­te, und müs­se sich wie­der dar­auf be­sin­nen. »Sie – viel­mehr du – weißt, dass ich dich – hm – lie­be. Ich konn­te dich heu­te nicht al­lein spre­chen. Ich mein­te, hier wür­den wir un­ge­stört bei­sam­men sein. Hier ist es zwar pri­mi­tiv – aber – hm – warum sprichst du nicht – sage?« frag­te er dann in plötz­li­cher Hilf­lo­sig­keit. »Rosa, ist Ih­nen bang?« – Rosa nick­te. – »Bang? Aber ich tu Ih­nen nichts – ge­wiss nicht!« Er setz­te sich auf die Kis­te und er­griff Ro­sas Hän­de: »Ich dir et­was tun? Ich lieb dich doch –« Er zog sie ganz nah zu sich her­an: »Hier ist es trau­lich – nicht, Lieb­chen?«

      Rosa lä­chel­te; Am­bro­si­us’ Be­fan­gen­heit gab ihr Mut, und sie blick­te zu ihm auf, er­schrak aber vor die­sem schmerz­voll er­reg­ten Ge­sich­te mit den star­ren Au­gen, den fest zu­sam­men­ge­preß­ten Lip­pen. Sie woll­te sich aus den Ar­men be­frei­en, die sie fest um­schlun­gen hiel­ten, und rief ängst­lich: »Oh, Tel­le­r­at!« – Er aber hielt sie fest: »Rosa, Rosa«, flüs­ter­te er und drück­te mit hei­ßen Hän­den die nack­ten Arme des Mäd­chens. »So ist’s gut!… So sind wir bei­ein­an­der.« Er lach­te – er wuss­te nicht mehr, was er sprach; sei­ne Fin­ger, die krampf­haft sich an Rosa fest­klam­mer­ten, ta­ten ihr weh – sie woll­te schrei­en, dann kam es aber wie große Mut­lo­sig­keit und Mü­dig­keit über sie – bleich lehn­te sie sich zu­rück und starr­te vor sich hin. Men­schen, die an­ge­strengt lau­schen, et­was er­war­ten, ha­ben die­sen ste­ti­gen, ab­we­sen­den Blick. Wil­len­los in die Arme des jun­gen Man­nes ge­schmiegt, ließ sie al­les über sich er­gehn, wäh­rend Am­bro­si­us mit fie­ber­haf­ter Hast an ihr zerr­te. Er bog den blon­den Kopf zu­rück und küss­te das erns­te Ant­litz – er riss das wei­ße Kleid von den Schul­tern – warf die gan­ze schlan­ke Ge­stalt in sei­nen Ar­men hin und her mit der Bru­ta­li­tät ei­nes jun­gen, der sei­ne ers­te Lie­be zu ei­ner Dir­ne in die Schu­le ge­schickt hat. Dann plötz­lich, als wäre er er­schöpft, als mach­te die Lei­den­schaft ihn krank, ließ er die Hän­de sin­ken und saß, an das Mäd­chen ge­lehnt, ru­hig da. Rosa hat­te ih­ren Kopf auf Am­bro­si­us’ Schul­ter ge­stützt – ihr Ge­sicht war un­be­wegt – wie das ei­ner Schla­fen­den, nur – dass die Au­gen weit of­fen­stan­den und an den Wim­pern Trä­nen hin­gen. Nein, sie dach­te an nichts. Sie fühl­te nur das Fie­ber ih­res Blu­tes, hör­te nur das Po­chen ih­res Her­zens. Mecha­nisch schweif­ten ihre Bli­cke im däm­me­ri­gen Rau­me um­her. Fahl kroch das Mond­licht die Fäs­ser und Bal­len hin­an. Mäch­ti­ge Schat­ten wuch­sen an den Wän­den em­por; auf ei­ner Leis­te er­glomm in ei­ner Fla­sche ein ro­ter Fun­ke und blin­zel­te. Von der De­cke hing die Pa­ri­ser Wurst nie­der, ein run­des Un­ge­heu­er, ein Rie­sen­blut­egel, der sich dort oben an­ge­zo­gen hat­te. Un­ge­ord­net, wie im Halb­schlum­mer, be­gan­nen sich Ro­sas Ge­dan­ken um die­se Ge­gen­stän­de zu dre­hen, und un­will­kür­lich müh­te sie sich ab, die­sel­ben zu un­ter­schei­den. Dort stand die He­ring­ston­ne – da­hin­ter schim­mer­te es matt. – Oh, das wa­ren die klei­nen Fi­sche! Die­ser spit­ze Schat­ten kam von der Ecke des La­den­ti­sches – – dort lag ein Tuch – dann ging es fins­ter hin­ab, ein schwar­zer Schacht – dort war noch et­was; et­was wei­ßes – Rosa schau­te es an; der Mehl­sack war es nicht, der stand dort. Nein, sie ver­moch­te es nicht zu er­ken­nen, so­sehr sie sich auch be­müh­te. Stün­de die Ton­ne et­was mehr nach rechts – be­rech­ne­te sie –, dann wür­de sie es un­ter­schei­den kön­nen. Es hät­te ein Ge­sicht sein kön­nen – die bei­den Pünkt­chen die Au­gen –, das schwar­ze Loch der Mund. Am­bro­si­us drück­te Rosa stür­misch an sich und stör­te sie aus ih­rem Hin­brü­ten auf; das wei­ße Ding – jetzt sah sie es deut­lich – es war ein blei­ches, ver­zerr­tes Ge­sicht. Es stütz­te das Kinn auf den Rand der Ton­ne – hat­te die Au­gen weit of­fen – es lach­te. »Dort in der Ecke«, ver­moch­te Rosa nur her­vor­zu­brin­gen, dann sank sie be­täubt zu­sam­men. Nun sah es auch Am­bro­si­us. Fahl und la­chend hing das Ge­sicht noch über der Ton­ne: »Lurch«, rief Am­bro­si­us un­si­cher. »Herr von Tel­le­r­at«, ant­wor­te­te eine lei­se, freund­li­che Stim­me. Am­bro­si­us beug­te sich vor und starr­te mit bit­ter­bö­ser Mie­ne in die Ecke, aus der die Stim­me kam. »Was tun Sie da? Wo kom­men Sie her?«

      »Ja, Herr von Tel­le­r­at«, er­wi­der­te Lurch höf­lich. »Ich weiß das selbst kaum. Ich muss wohl müde ge­we­sen sein. Je­den­falls ver­lang­te mich – ganz plötz­lich – nach mei­nem Bett. Ja – und nun – so glau­be ich«, ein blei­cher Fin­ger tauch­te aus dem Dun­kel auf und leg­te sich an die blei­che Nase, »nun hab ich mein Zim­mer wohl nicht fin­den kön­nen – das ver­mu­te ich –, so bin ich denn hier her­ein­ge­ra­ten. Mög­lich ist es, dass ich ge­glaubt habe,


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