Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
liegen. Aus der Schule wird heute ohnehin nichts.« Agnes rückte Rosa die Kissen zurecht und strich die Bettdecke glatt. »Ich bringe das Frühstück. Das kommt vom Tanzen.«
»Ach ja!«
Agnes ging, und Rosa lag wieder ruhig da, die Hände über der Bettdecke gefaltet. Sie wollte sich selbst die Überzeugung aufdrängen, sie sei krank und durchaus nicht imstande, Geschehenes klar zu überdenken, einen Entschluss zu fassen, eine Verantwortung zu übernehmen.
Agnes brachte das Frühstück, richtete Rosa auf, strich ihr das Haar aus der Stirne, hielt ihr die Schale mit Milch; unwillkürlich geriet sie wieder in das Geschäft des Wartens hinein, das sie so lange an der kleinen Rosa geübt hatte; und Rosa fand sich auch schnell wieder in die Rolle, Agnes’ Schützling zu sein, der noch nichts von der bösen Welt der Tellerats und der Lurchs weiß.
»Du bleibst liegen, bis der Papa kommt«, beschloss Agnes. »Liege nur still. Zu Mittag stehen wir auf.« Sie schob die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster, warf einen prüfenden Blick auf das Gemach, wie sie es früher so oft getan, wenn sie das Kind allein ließ und sich vorher davon überzeugte, ob nichts im Gemach dem Kinde schaden könnte; dann ging sie mit dem gewohnten »Hübsch still! Ich bin gleich wieder da« hinaus.
Das Sonnenlicht drang jetzt voll in das Zimmer und beschien grell all die alten Sachen, die abgeblichenen Vorhänge, den struppigen Teppich – Rosas dunkles Werktagskleid. Durch das Fenster klang das eintönige Surren der heißen Mittagsstunde herein, und allerhand klingendes Sommergesindel mit flimmernden Flügeln verirrte sich in das Gemach. Rosas Gedanken gingen weit in frühe Kindertage zurück; immer wieder wollte sie den ereignislosen Frieden jener Zeit denken, es kostete sie jedoch Anstrengung, denn zuweilen entwichen die Gedanken zu einem Gegenstande, den Rosa vermeiden wollte. Nein, in jene Zeit wollte sie sich zurückversetzen, da sie auf dem Estrich der Küche saß und spielte, während Agnes die Suppe kochte und Blätterschatten über den weißen Küchentisch strichen, immer hin und her… doch ehe sie sich dessen versah, stand ein blasses, aufgeregtes Gesicht vor ihr – heiße Hände drückten ihren Arm – – –, gewaltsam musste sie die Gedanken auf die frühere Bahn zurückdrängen; es gehörte jedoch eine Kraft des Willens dazu, die sie ermüdete, und sie ließ endlich von diesem unerquicklichen Ringen mit ihrer Phantasie ab. Gut, sie wollte an den gestrigen Abend denken, wenn es denn sein musste! Nun, und als sie an ihn dachte, als sie sich jeden Augenblick, jedes Gefühl wieder in das Gedächtnis zurückrief – da war es so schlimm nicht. Über Lurch konnte sie lachen, und Ambrosius – – – der Gedanke an ihn machte sie unruhig, verleidete ihr die Stille des sonnigen Gemaches. Alle Mattigkeit war fort, neue Lebensungeduld ergriff sie.
Herr Herz kam: »Wie geht es, mein Kind? Die Agnes meint, du seist krank.«
»Es ist vorüber«, erwiderte Rosa. »Es war nur von gestern. Du weißt?«
»Ja, wir haben brav getanzt. Ein wenig gerader hättest du dich halten können; sonst war es gut. Du warst die Beste.« Herr Herz, frisch und rosig, mit klaren Augen und sehr weißer Wäsche, hatte schon viel erlebt. »Lanin«, erzählte er, »ist heute nicht im Magistrat gewesen. Der Doktor ging zur Frau Palton, die soll krank sein. Auch den jungen Tellerat habe ich gesehn; er stand dort beim Trödler Wulf und handelte um einen Pfeifenkopf. Der Kopf war nicht schlecht, aber der Wulf, der Schelm, betrügt all die jungen Leute.« Herr Herz wollte sich entfernen, öffnete aber noch einmal die Türe und rief: »Ich vergaß, dir zu erzählen, dass ich auch Klappekahl getroffen habe. Er klagt über Kopfweh – du verstehst, die gestrige Bowle.«
Auch das Mittagsmahl war sehr heiter. Rosa aß und sprach zwar wenig, dafür war sie aber stets zu einem lauten, herzlichen Lachen bereit, das ihren Vater glücklich machte. Um dieses ausgelassene Mädchenlachen zu erregen, wagte er alles, er hatte sogar einen Witz über seine selige Schwester Ina gemacht. Heute kritisierte er die gestrige Gesellschaft. Zuweilen steckte er seine Serviette fester hinter den Kragen, erhob sich und ahmte das Tanzen dieser oder jener Person nach. »Gott, die arme Ernestine Klappekahl; sie hat das Tanzen nie erlernt. Hast du sie beobachtet? Mit deiner lieben Mutter musste ich vor vielen Jahren in einem Ballett einen Zikadenreigen tanzen. Wir hatten grüne Röcke an, lange, spitze, eckige Beine und hüpften umher. Grad so hat es gestern Ernestine Klappekahl gemacht. Ich musste an den Zikadenreigen denken.« Und als Rosa lachte, wischte sich Herr Herz zufrieden die Lippen und meinte: »Ja – Kind, früher war ich ein arger Witzbold. Oh, sehr sarkastisch konnte ich sein. Das vergeht mit den Jahren. Aber ich hatte eine sehr scharfe Zunge.«
Am Nachmittag jedoch litt es Rosa nicht länger daheim. Eine innere Ungeduld trieb sie hinaus. Erst auf der Straße besann sie sich. Wohin eilte sie denn? Wo harrte – es – ihrer? Wo konnte sie es finden? – Zum Trödler Wulf wollte sie hinab.
Gerade dem Laninschen Laden gegenüber besaß der Trödler Wulf eine kleine Holzhütte. Sie lehnte sich an ein größeres Gebäude und sah mit ihren morschen Bretterwänden, ihrem Dach aus gesprungenen, ungeordnet übereinandergeschobenen Dachpfannen wie eine alte Schaubude aus, die man vergessen hatte abzureißen. Die Türe, in den engen Laden führend, stand immer offen. An den Türpfosten hingen alte Kleider, welke Hosen, die noch treu irgendeine wunderliche Krümmung, irgendeine Stellung ihres früheren Besitzers festhielten. Abgetragene Röcke spannten dort ihre Arme aus und sonnten ihre Fettflecken und Risse. Drinnen, im Laden, lag allerhand Gerät aufgehäuft. Die Ecken standen voll rostiger Eisensachen, an den Wänden hingen alte Tapisseriearbeiten, auf denen die Motten den gestickten Damen die blauseidenen Augen aus dem Kopf und die Rosen aus der Hand gefressen hatten. Stöße verbrauchter Schulbücher türmten sich bis zur Decke auf, trübe, zerknitterte Gesellen mit staubfarbigen Umschlägen und großen Rissen. Auf dem Ladentisch standen Glaskasten voll unechten Schmuckes, daneben Seifen, bunte Taschentücher, Messer, Kämme, Pfeifenköpfe, alles warm beschienen, dicht mit unsteten Lichtflocken übersät. Hinter dem Ladentisch saß der Trödler selbst, ganz in sich zusammengesunken, und schlief. Ein hageres gelbes Gesicht; aller Art Vertiefungen, Schrammen, wie das verbrauchte Gerät ringsum – braune Flecken, wie Rost. Ein dünner, abgeblichener Bart fiel ihm auf die Brust herab, und zwei fest zusammengerollte Löckchen hingen zu beiden Seiten des nackten Schädels. So schlief der Trödler Wulf inmitten seiner modernden Ware – in der schweren Luft voll Staub, Fliegengesumme und dem Geruch von Kräuterseife und alten Hosen. Draußen an der Türe lehnte Ida, seine Tochter, und unterhielt sich damit, Kieselsteine mit dem Fuße über die Straße zu schnellen. Ernst und sorgenvoll folgten ihre schwarzen