Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Rücken, eine zweite schob sie sachte beiseite, und eine würdige leise Stimme fragte: »Was gibt es?« Herr Lanin war auf weichen Hausschuhen herangeschlichen und nahm ruhig von dem Guckloch Besitz. Er ließ ein knurrendes »Oh!« hören, dann schwieg er, stand mit gekrümmtem Rücken da, die Hände auf die Fensterbank gestützt, und spähte hinaus. Mit Antipathie schauten Mutter und Tochter auf den breiten Rücken des Hausherrn. »Der geht gewiss nicht fort!« meinte Frau Lanin.
»Es ist deine Schuld, du warst zu laut«, erwiderte Fräulein Sally kühl und lachte bitter, doch, schnell gefasst, beschloss sie, im anderen Vorhang ein Loch für sich – für sich ganz allein zu machen.
»Das kann ich auch tun«, sagte Frau Lanin, und beide eilten an das andere Fenster.
Ein jeder hatte jetzt sein Guckloch, und es herrschte Frieden in der Familie Lanin. Regungslos klebten die drei Profile an den Vorhängen, und ein jedes hatte ein fest zugedrücktes Auge und einen schief verzogenen Mund.
»Das ist zu stark!« stöhnte Fräulein Sally plötzlich auf und eilte zur Türe. Vater und Mutter blickten verwundert auf.
»Was will sie? Sie ist toll«, meinte Herr Lanin.
Aber Fräulein Sally wusste wohl, was sie wollte. Sie riss die Haustüre auf, steckte ihren Kopf hinaus, sandte ein schrilles, hohes Lachen auf die Straße hinab und verschwand wieder. Das erleichterte ein wenig ihr bedrücktes Jungfrauenherz.
Fräulein Sallys Gelächter schreckte die Liebenden aus einer engen Umarmung auf. »War das nicht Sally?« fragte Rosa. »Jawohl, sie war es«, bestätigte Ambrosius. Sie schauten sich an und begannen zu lachen: »Sally! Mein Gott! Sally!« Das Lachen wollte kein Ende nehmen. Rosa musste sich an Ambrosius lehnen, weil das unbändige Gelächter sie aller Kraft beraubte. »Dort hinter dem Vorhang hat sie gesessen. Gott, wie mag sie geschielt haben.« Endlich drängte sich jedoch die Frage auf, was sollte geschehen? Rosa ward besorgt; Ambrosius aber machte sich aus alledem nichts. »Wir gehen ins Haus. Die tolle Sally soll uns nicht stören; die gewiss nicht!« Er war entschlossen, sich diese Liebesstunde nicht nehmen zu lassen, das wusste er!
Sie gingen durch den Hof in die Trödlerwohnung hinein, Ida saß auf der Fensterbank und sah die Eintretenden so ruhig an, als hätte sie sie erwartet. »Ida, wir kommen dich besuchen«, rief Ambrosius gutgelaunt.
»Müssen die Vorhänge vorgezogen werden?« fragte Ida in gleichgültigem Geschäftston.
»Gewiss«, erwiderte Ambrosius. »Es ist Gefahr im Anzuge.«
Das Zimmer war äußerst klein und finster. In einer Ecke stand ein geräumiges Bett, halb von einer gelben Gardine verhüllt; daneben ein Kasten, an dessen Ecken welke Unterröcke hingen. Auf einem dünnbeinigen Tischchen am Fenster war allerhand Gerät zur Schau gestellt, silberne Kannen, zerbrochene Teller, golddurchwirkte Fetzen. Davor auf einem abgeriebenen roten Samtsessel saß die alte Jüdin und schlummerte – eine große, farblose Masse. Wo die schmutzigen Fetzen ihrer Kleidung aufhörten und wo der Körper begann, war nicht zu unterscheiden; alles schien gleich schlaff und von gleich gelbgrauer Farbe. Nur zuweilen blitzten unter dem Tuch düstere Funken auf – das waren dann die Augen. Frau Wulf nahm von ihren Gästen keine Notiz, sondern schlummerte weiter. Ida stäubte mit ihrem Kleide zwei Stühle ab, stellte sie mürrisch vor Ambrosius hin, zog die Vorhänge vor das Fenster und setzte sich schweigend auf das Bett.
»Hm – sehr romantisch«, sagte Ambrosius. Dennoch saßen sie ein wenig befangen mitten im Zimmer. Die fröhliche Laune war fort, und in beiden regte sich die Sorge. »Ich sollte vielleicht heimgehen«, bemerkte Rosa kleinlaut.
»Heimgehen? Jetzt?« rief Ambrosius entrüstet aus. Rosas niedergeschlagener Ton, ihr melancholisch mutloses Gesicht verdarben vollends seine Laune, und nichts verzieh er schwerer, als wenn man ihn verstimmte und in seinem Herzen den Weltschmerz weckte, das heißt den Gedanken an gewöhnliche Werktage, an seinen Onkel, an seine Pflicht im Geschäft. Gut! Rosa sollte gehen; die Überzeugung aber konnte sie mitnehmen, dass sie seinen Plänen und Anschauungen nicht gewachsen war. Hätte er gewusst, dass Rosa sich von einer so albernen Person wie Sally einschüchtern ließ, er wäre ihr aus dem Wege gegangen. – Er erhob sich, machte mit den Armen weite Bewegungen; seine Stimme nahm einen angenehmen Baritonklang an, und seine Ausdrücke waren gewählt und volltönend. Er wollte sich über seine Missstimmung hinwegreden.
»Nein! Ich hätte dein ruhiges – ich möchte sagen – friedlich-unschuldiges Leben nicht gestört, hätte ich gewusst, du seist nicht besser als die anderen. Ich kenne meinen unglücklichen Charakter. Ich weiß, auf der großen Heerstraße vermag ich nicht einherzugehen. Ich kann das eben nicht. Es liegt nicht in meinem Naturell! Ganz glücklich werde ich nie sein; und die – die ich liebe – wird es auch nicht sein. Das ist, möchte ich sagen, der Fluch, der auf uns, quasi abnormen Geistern, ruht, dass wir jedem, den wir lieben, unser Verhängnis mitteilen.« – Das Bewusstsein, ein abnormer Geist zu sein, ein Verhängnis und einen Fluch zu haben, gab Ambrosius wieder seine gute Laune zurück. Er war stets der erste, den seine Reden überzeugten. Während des Sprechens wandte er sich öfters an Ida, und als er die Hand auf das Herz legte, blickte er die alte schlummernde Jüdin an. »Darum eben suche ich ein tapferes Herz, das willig meinen – hm – Fluch teilt. Bist du dieses Herz? Sage! Bist du es?«
Rosa neigte den Kopf. Was sie hörte, gefiel ihr sehr gut, aber antworten! Ähnliches hatte sie schon in Romanen gelesen, es war ihr jedoch nie eingefallen, dass man auf so etwas eine Antwort geben konnte. Da jedoch Ambrosius schwieg, sagte sie leise: »O ja!« mit dem deutlichen Bewusstsein, dass ein nacktes »O ja« auf eine so hübsche Frage eine lächerliche Antwort sei. Ambrosius genügte es. Gut, war Rosa dieses Herz, dann durfte sie sich nicht vor Sally oder sonst jemandem in diesem dummen Neste fürchten.
Der Nachmittag war weit vorgerückt. Über die Wände zogen blassrote Lichter, und draußen auf dem Pflaster klapperten die Schritte der Abendspaziergänger.
Ambrosius seufzte und ergriff Rosas Hand. »Nein, das darfst du nicht, mich verlassen darfst du nicht.«
Rosa drängte sich an ihn heran. Sie fürchtete sich vor der Welt, die draußen zu lärmen begann und den Ton bekannter Stimmen, eiliger Schritte hereinsandte. Es tat wohl, traulich beieinander zu sitzen und sich langsam von der Dämmerung überdecken zu lassen.
Ambrosius sprach jetzt mit gedämpfter Stimme, dicht auf die wirren blonden Haare des Mädchens niedergebeugt. Er wollte sie schützen. Er liebte sie nur zu sehr. Fort, in eine große Stadt wollten sie flüchten.