Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
Rosa fuhr auf. Ja, sie war noch immer im Hinterstübchen des Trödlers. »Es muss spät sein«, sagte sie beklommen. Eine große Angst bemächtigte sich ihrer. Sie musste fort – und draußen harrte etwas Böses, Feindliches ihrer.
Ida brachte die Lampe, und das harte gelbe Licht verbreitete furchtbare Traurigkeit um sich. Idas forschende Augen, das verschlafene Gesicht der alten Jüdin, das Zimmer mit seinen schäbigen Sachen – alles war niederdrückend, und doch hätte das bange Mädchen viel darum gegeben, nicht aus dieser garstigen Stube hinaus zu müssen. Aber es musste ja doch sein. »Ich gehe«, sagte sie hastig und bot ihre sorgenvolle Stirn Ambrosius zum Kusse dar, dann war sie fort.
Ambrosius saß noch da. Ihm war unbehaglich genug ums Herz; hielte ihn nicht die Scham ab, er hätte, wie ein Kind, aus übler Laune geweint. Hinaus sollte er? Lanins entgegentreten? Das war zu fatal. Er ging nicht, er blieb sitzen.
Dreizehntes Kapitel
Herrn Klappekahls Apotheke war ein äußerst freundlicher Aufenthalt. Geräumig, weiße Spitzenvorhänge an den Fenstern, ein Mosaikfußboden, der auf blaugrauem Grunde weiße Sterne zeigte, allenthalben eine Verschwendung an Mahagoni, die Türe, die Schränke, die Fensterbänke, die Stühle – alles von Mahagoni und spiegelblank. Auf der grauen Marmorplatte des Ladentisches standen in musterhafter Ordnung Waagen, Mörser, Gewichte von jeder Größe. Die Schränke waren voll schneeweißer Büchsen und klarer Flaschen, und alles das von goldenem Morgensonnenschein überflutet, von einem scharfen Geruch von Medikamenten umweht, zu dem ein Rosenstrauß auf dem Fensterbrett seinen zarten Duft gesellte. Vor diesem Rosenstrauß stand Herr Klappekahl, frisch gekämmt, rosig, in seinem leinenen Sommeranzug, so rein und blank wie seine Büchsen oben in den Fächern. Er suchte sich gerade eine Rose aus, um sie in sein Knopfloch zu stecken. In dem Blick, den er auf den kleinen Platz vor dem Hause warf, lag eine Welt von Güte und Frieden. Jetzt war der Entschluss gefasst, jetzt wusste er es, jetzt war ihm die gute Tat eingefallen, mit der er diesen schönen Sommermorgen beginnen wollte. Er ging zur Türe, öffnete sie und rief sanft: »Zapper!«
Zapper kam; ein schmaler, bleicher Junge mit hervortretenden blauen Augen und einem stark entwickelten Kehlkopf, auf dem sich ein Ansatz von Bart befand. Das blonde Haar hing ungeordnet um den Kopf und war voller Federn. Auf seinen Anzug hatte Zapper gar keine Sorgfalt verwandt. Der Rock war nicht gebürstet, die Hosenträger fehlten ganz. Beinkleid und Weste schieden sich und ließen einen weißen Streif sehen, der Zapper Ähnlichkeit mit jenen Puppen gab, die eine grausame Kinderhand mitten durchgebrochen hat und die nun hilflos ihr Inneres von weißer Watte sehen lassen. Zapper gefiel seinem Prinzipal auch nicht. »Zapper«, sagte Klappekahl und zog die Nase kraus. »Wie haben Sie vorige Nacht wieder gelebt?« Zapper schwieg und zog seine Beinkleider mit beiden Händen empor. »Junger Mann«, fuhr Herr Klappekahl fort, »sehen Sie sich vor. Ich sage Ihnen nur dieses. Sie kennen meinen Grundsatz: Ein jedes zu seiner Zeit. Der Mensch muss in alles Harmonie zu bringen wissen. Hier, in mein Haus, passt die Unsolidität nicht hinein. Solange Sie bei mir sind, müssen Sie sich dem Ton des Hauses fügen. Dieser Ton, Sie wissen es ja, ist strenge Moralität. Dafür gestehe ich Ihnen das Recht zu, wenn Sie einmal selbständig sind und in eine größere Stadt kommen, sich das Leben von der anderen Seite anzusehen. Harmonie – das ist’s, hat schon ein – ein großer Denker gesagt.«
Zapper empfand es wohl, wie wenig er in Harmonie stand mit der reinlichen Apotheke und mit seinem schneeweißen Herrn; reumütig schlug er die Augen nieder. »Frisieren Sie sich vor allem«, versetzte der Apotheker väterlich. »Dann gehen Sie ins Freie; das wird Sie ermuntern.«
»Ja – Herr Prinzipal.«
»Gehen Sie nur; merken Sie sich meine Worte. Der Mensch muss sich erst eine moralische Basis erwerben, ehe er darangeht, die Tiefen des Lebens kennenzulernen. Übrigens können Sie beim Trödler Wulf anspringen. Die alte Frau soll krank sein. Sie hat ihren Husten, sagte mir der Jude. Ich habe hier einen Rest Brustpastillen; den kann sie haben, wenn die Ida ihn holt. So, Sie können gehen. – Die Ida soll gleich kommen«, rief er noch dem hinausschlüpfenden Zapper nach.
Herr Klappekahl war wieder allein in seiner schönen Apotheke. Mit kleinen Schritten ging er auf und ab, fuhr zuweilen mit der Hand über die Marmorplatte des Ladentisches, ergriff diesen oder jenen Gegenstand und ließ ihn in der Sonne funkeln, strich mit dem Fuß den grünen Laufteppich glatt – bedächtig und zart, jede Bewegung eine Liebkosung.
Plötzlich ward die Türe aufgestoßen, und Fräulein Ernestine steckte einen Kopf mit sehr hoher Frisur ins Zimmer. »Vater –«
»Nun« – Herr Klappekahl schaute nicht auf, sondern rieb ein Gewicht an seinem Ärmel blank.
»Der junge Mensch ist um zwei Uhr morgens nach Hause gekommen; ich hab ihn gehört.«
»Ich weiß es, ich habe darüber mit ihm gesprochen.«
»Es ist ein Skandal! In seinem Zimmer habe ich soeben ein zerbrochenes Glas gefunden.«
»Setze es ihm auf die Rechnung.«
»Es ist schon das dritte.«
»Seine Sache.«
»Vater! Was hast du über die Rosa Neues erfahren?«
»Nichts.«
»Ach so! Ich dachte mir’s.«
Bums – Fräulein Ernestine warf die Türe ins Schloss und verschwand. Der Apotheker rückte einen Stuhl in den Sonnenschein, setzte sich und gab sich dem stillen Vergnügen hin, die Sonnenstrahlen bald auf dem rechten, bald auf dem linken Stiefel spielen zu lassen. Endlich gab die Türglocke einen hellen Ton von sich, und Ida Wulf erschien.
»Du bist’s, Ida? Komm näher, mein Kind«, sagte Herr Klappekahl und lächelte ermutigend.
»Der Herr Zapper«, berichtete Ida mit lauter Stimme, »schickt mich her. Der Herr Apotheker, sagt er, wollen etwas für die Mutter geben.«
»Ja, mein Kind! Hier nimm«, Herr Klappekahl hielt dem Mädchen eine kleine blaue Papiertüte hin, »gegen den Husten ist das.«
»Ich danke schön, Herr Apotheker«, versetzte Ida und wog die Tüte in der flachen Hand. »Ich werd’s der Mutter sagen.«
»Tu das, mein Kind.« Herr Klappekahl setzte sich wieder bequem zurecht und fuhr fort, seine Stiefel zu sonnen. »Nichts Neues, Ida?« Das Mädchen stand breitbeinig da und versuchte die Namen auf den Büchsen zu entziffern.
»Bei uns? Nein, nichts Neues, Herr Apotheker.«
»So – so! Sonst alles