Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
die Steine und der Sand lassen nichts Rechtes aufkommen.«
»Und der Fluss?« fragte Rosa weiter. »Wohin geht der? Sind Sie den schon ganz hinabgefahren?«
»Freilich! In dem Kahn da. Drei Tage sind wir gefahren, eh wir an die See kamen.«
»An die See?«
»Ja, es geht gut. Nur eine halbe Stunde unterwärts ist eine schlimme Stelle. Vor Gestrüpp und Schilf kommt man nicht weiter. Da muss der Kahn auf dem Lande fortgezogen werden.«
»Wenn man also immer weiter und weiter hinabfährt, dann kommt man ins Meer?«
Raute blinzelte bejahend mit den Augenlidern.
»Dort liegt es also?« Rosa zeigte mit dem Finger den Fluss hinab und zuckte mit den Wimpern. Das Wort »Meer« erweckte in ihr die Vision einer weiten, lichtblauen Fläche, die wogt und rauscht und flimmert. Sie kannte es nicht, aber das Wort allein machte sie froh, erregte ein kitzelndes, unruhiges Wonnegefühl in der Herzgrube. Dann musste sie wieder über ihren Finger lachen, der klein und kindisch in die Ferne, auf jenes große, unbekannte Wunder – das Meer – hinausdeutete.
Endlich kam Ambrosius den Abhang herab. Er jodelte wie ein steyrischer Bua und schwenkte seinen Hut. Rosa blieb sitzen und streckte dem Geliebten kameradschaftlich die Hand entgegen. »Grüß dich Gott!« sagte Ambrosius und drückte die dargereichte Hand. Sie gefielen sich beide in der geschmackvollen Zurückhaltung dieses Händedruckes. Er gab ihrer Liebe das Ansehen einer ausgemachten Sache.
»Bleiben wir hier?« fragte Ambrosius.
»Wie du willst«, erwiderte Rosa. »Aber hier ist’s gut.« Die gefühlvolle Schlaffheit, in der sie auf dem Stein saß, behagte ihr. Die Hände auf den Knien, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Blicke in den Glanz des Abendhimmels verloren.
»Nein – nein«, sagte Ambrosius, schüttelte den Kopf und dachte nach. Da, jetzt hatte er’s! »Wir fahren mit dem Kahn den Fluss hinaus.«
»Ja Amby, wenn du willst?«
Raute richtete den Kahn her, und als alles bereit war, führte Ambrosius Rosa zum Ufer hinab, stieg zuerst in den Kahn und wollte Rosa hineinhelfen; Raute aber schob ihn ruhig beiseite, nahm Rosa in seine Arme, hob sie in den Kahn und setzte sie auf die Bank vor dem Steuer nieder. Ambrosius lachte gezwungen. Er wusste nicht, ärgerte es ihn, dass er Rosa nicht selbst trug, oder dass er selbst nicht wie Rosa getragen ward.
»Halten Sie sich hübsch in der Mitte«, mahnte Raute, »dabei haben Sie nicht viel Arbeit. Hinab geht es ohnehin von selbst.«
»Mir brauchen Sie das nicht zu sagen«, antwortete Ambrosius gereizt. »Stoßen Sie nur den Kahn ab.«
Mit leisem Geplätscher schoss das Boot in den Fluss hinaus, und Ambrosius begann eifrig und sehr regelrecht zu rudern. Er gab viel darauf, die Ruder genau zu gleicher Zeit in das Wasser zu tauchen und sie flach und geräuschlos wieder herauszuziehen. Bei jedem Ruck stemmte er seinen kräftigen, strammen Oberkörper gegen die Ruder, wölbte die Brust, ließ seine Muskeln spielen, freute sich seiner jungen Glieder. Die Anstrengung rötete seine Wangen und gab seinen Augen einen gesunden, fröhlichen Glanz. »Eins, zwei – eins, zwei« zählte er und schaute stolz zu Rosa hinüber. »Das geht gut, nicht? Oh, das Rudern versteh ich. Ich war immer der Erste in unserem Ruderklub. Die Hauptsache ist: das Ruder flach hinein – ein Ruck – flach heraus. Kein Geplätscher und Spritzen. So: eins – zwei, eins – zwei. Komm, willst du’s lernen?«
»Jetzt nicht«, erwiderte Rosa. Sie sah lieber zu und fühlte sich gar so wohl dort an ihrem Steuer. Der Kahn wiegte sie sachte hin und her, ein kühles, feuchtes Wehen schüttelte an ihren Haaren. Vor ihr die Wasserbahn mit ihrem metalligen Glanz, in den die Abendwolken eine welke Rosenfarbe mischten, wie das Spiegelbild einer Hand auf einer Stahlklinge. Die Häuser am Ufer, mit ihren geöffneten Fenstern, glichen großen durchlöcherten Kästen, in deren schwarzen Öffnungen sich fleischfarbige Punkte regten, grelle Farbenflocken aufleuchteten. Dazu kam ein beständiges Klingen über das Wasser, Stimmen, Hundegebell, Glockengeläute, und es schien Rosa, als empfingen die Töne vom Wasser eine hellere, sanftere Note, etwas von dem leisen Rauschen am Kiel des Bootes. Endlich war ihr, auf dem Hintergrunde des bunten Abendhimmels, der rege, kräftige Junge mit seinem geröteten Gesicht, der feuchten Stirn, den regelmäßigen, elastischen Bewegungen der geraden Schultern – ja, so war es recht! Rosas Augen wurden feucht und blickten vor sich hin in der verträumten Geistesabwesenheit der Frauen, die sich wohlfühlen und nur ihrer Empfindung lauschen.
Ambrosius war des Ruderns müde. »Wir kommen auch so fort«, meinte er, ordnete seine Krawatte, warf Rosa eine korrekte Kusshand zu, kreuzte die Arme über den Rudern und sagte ernst: »Ja, ich wollte von unseren Angelegenheiten sprechen. Es ist wirklich zu dumm…«
»Jetzt nicht«, unterbrach ihn Rosa.
Verwundert blickte Ambrosius auf. Zum zweiten Mal schon kam dieses bittende, weiche: »Jetzt nicht.« Was war’s? Rosa saß ja da, als ginge sie die ganze Welt nichts an. Aber die Unannehmlichkeiten, die Lanin ihm bereitete, waren doch gewiss wichtig genug.
»Wie du meinst«, versetzte er, zuckte die Achseln, schwieg und dachte nach. Was war es nur? Machte die Kahnfahrt wirklich solch einen Eindruck auf Rosa? Poetisch war es, gewiss; er hatte aber den Kopf so voll von Lanin, dass er das ganz vergessen hatte. Und Rosa? Teufel, war das Kind heute schön! Er begann das ernste Gesichtchen sorgsam und gründlich zu studieren und freute sich darüber, dass es seine Blicke zu fühlen schien. Sah er auf die Lippen, dann lächelten sie, als striche jemand sachte mit einer Feder über sie hin, schaute er auf die Augen, dann zuckten die Wimpern.
Diese gefühlvolle Versunkenheit imponierte Ambrosius; er wollte auch zeigen, dass er poetisch gestimmt sei. »Sieh doch, Schatz«, rief er, »die rosa Wolke dort, wie blass sie geworden ist. Ich beobachte sie schon lange, sie wird immer blasser, sie stirbt. Wirklich, sie kommt mir vor wie eine junge Dame, die langsam stirbt. Nicht wahr?« Rosa nickte; sie fand es auch, dass die Wolke einem sterbenden jungen Mädchen zu vergleichen war. »Die Wolken beobachten«, fuhr Ambrosius fort, »war von jeher meine Passion, da konnte ich stundenlang träumen. Und dann – hast du bemerkt, wie die Stadt sich im Wasser spiegelt? Schau, da sieht man’s noch. Allerliebst! Das dort ist das Kollhardtsche Haus; man sollte meinen, es stehe hart am Fluss, und doch ist es ein gutes Stück davon. Eine reizende optische Täuschung! Ach ja, überhaupt die Natur, sie ist meine einzige Erquickung.«
Der Fluss machte eine scharfe Biegung. Die Ufer wurden flach, und dichtes Erlengesträuch trat hart bis an das Wasser heran. Unter den Bäumen dämmerte es bereits, und die Tagesschwüle