Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
sie war da«, bestätigte Ida.
»Gut, erzähle!«
Ida dachte nach. »Der Schusterbub Peter«, begann sie langsam, »hat sich die Hand zerschnitten. Ich wollte den Herrn Apotheker um ein Stück von dem guten Pflaster für den Peter bitten.«
»Gewiss, gewiss.« Herr Klappekahl lächelte, aber nicht mehr so heiter wie vorhin. Während er das Pflaster zurechtschnitt, berichtete Ida mit eintöniger Stimme und wiegte sich auf ihren schiefgetretenen Absätzen hin und her.
»Was sie getan hat? Der junge Herr hat vor der Tür auf sie gewartet – sie ist gekommen – dann hat er sie um die Mitte genommen, und sie haben miteinander gesprochen. Später sind sie zu uns ins Zimmer gekommen.« Herr Klappekahl hielt im Schneiden inne und hörte zu. »Die Vorhänge habe ich zugezogen. Die Mutter und ich blieben im Zimmer.« Herr Klappekahl schnitt weiter. »Gesprochen haben sie, aber ganz leise. Jetzt ist das Pflaster groß genug, Herr Apotheker.«
»Gut, gut, Ida! Hier hast du es. Sei recht brav. Behüte dich Gott!«
»Danke, Herr Apotheker.« Mit diesen Worten schob sich Ida zur Tür hinaus.
Nun ward Herr Klappekahl ungeduldig, und als Zapper ins Zimmer trat, rief er ihm ärgerlich entgegen: »Wo bleiben Sie? Sie wissen doch, dass ich in den Magistrat muss. Ich kann die Stadtangelegenheiten nicht versäumen, weil Sie ihren Katzenjammer spazierenführen wollen.« Geläufig fortscheltend suchte er seinen Spazierstock aus der Ecke hervor, nahm seinen Strohhut vom Nagel, stellte sich vor den Spiegel, er begriff wirklich nicht, wie ein junger Mensch so wenig Moralität haben konnte! Den Strohhut rückte er keck auf die linke Seite, schlug mit dem Stock auf den Ladentisch, er hoffte, Zapper würde in seiner Abwesenheit nicht einschlafen. Dann warf er noch einen Blick in den Spiegel und verließ das Gemach.
Bei Gott, dieser liederliche Zapper war schuld daran, dass Herr Klappekahl die Sitzung versäumte. Es war schon zwölf Uhr vorbei, und als der Apotheker auf den Marktplatz gelangte, standen die Herren vom Magistrate schon alle auf der Rathaustreppe, im Begriff heimzugehen. Vordem sie sich trennten, unterhielten sie sich noch einen Augenblick. Der kleine Kaufmann Paltow mit dem schlauen, glattrasierten Gesicht und der mächtigen Nase zündete sich gerade eine Zigarre an, wiegte sich auf seinen krummen Beinen hin und her und hörte eine Geschichte an, die der Sekretär, Herr von Feiergroschen, erzählte – ein sehr adretter junger Mann mit einem rotgoldenen Backenbart, einem goldenen Kneifer auf der Nase und Lackstiefeln an den Füßen. Da war ja auch Lanin! Er verabschiedete sich gerade von dem dicken Bäckermeister Vogt und dem Advokaten Grupe.
»Die Ehre, Lanin!« rief Klappekahl. »Die Ehre – die Ehre«, erwiderte Lanin und lüftete seinen Hut. Klappekahl fand es natürlich, dass er nicht stehenblieb, um zu plaudern. Wenn man solche Geschichten im Hause hat!
Auf der Rathaustreppe ward der Apotheker mit lauten Rufen empfangen. »Da kommt unser pünktlicher Stadtvater!« meinte Herr von Feiergroschen, und Paltow fand, dass Klappekahl heute zu lange Toilette gemacht habe.
»Es ist nicht meine Schuld«, entschuldigte sich Klappekahl. »Dieser unglückliche Zapper macht mir viel Sorge. Wenn man solch einen jungen Menschen im Geschäft hat, geht nichts vorwärts.« Dann nahm er den Sekretär beiseite. »Wie sah denn Lanin heute aus?«
»Ich habe nichts bemerkt. Warum?«
»Wie? Sie wissen’s noch nicht?« Herr Klappekahl rückte dem Sekretär nahe auf den Leib, steckte sein Gesicht in den rotgoldenen Backenbart und erzählte die Geschichte von der Rosa. – Belustigt hörte der schöne Sekretär zu.
»Nicht möglich!« Er lachte, vorsichtig den Kopf zurückbiegend, damit die Gläser ihm nicht von der Nase fielen. Die anderen Herren kamen auch heran – sie wollten auch hören, und Klappekahl erzählte immer wieder die Angelegenheit. Er war gut unterrichtet, fügte neue Einzelheiten hinzu, und die alten Herren, die Hände in den Taschen, gaben ihrer Entrüstung Ausdruck, während ein Lächeln ihre blassen Lippen kitzelte. Nur der Sekretär nahm die Sache nicht so ernst. Er fand das alles ganz in der Ordnung. »Gott, ich habe nie etwas anderes erwartet. Der Rosa Herz sah man ja die Lebensneugierde an den Augen an. Sie hat die erste Gelegenheit benützt, sich zu belehren. Dieser – oder ein anderer, einer musste es sein. Mir hat sie genug Blicke zugeworfen. Soll der junge Tellerat vielleicht den Spröden spielen? Lächerlich! Er ist ein sympathischer Junge, ich kenne ihn. Sie ist ein hübsches Mädchen. Ich finde nichts Merkwürdiges an der Geschichte!«
»Ja, aber Lanin«, warf Paltow ein. »Der hat doch auf den jungen Mann für seine Tochter gerechnet, sagt man.«
»Gut! Warum nicht?« Herr von Feiergroschen fand, dass die Affäre mit der Rosa Lanins Pläne nicht durchkreuzte. Man sollte doch nicht glauben, der junge Tellerat würde die Rosa heiraten. Gewiss nicht! Er konnte ja noch immer reuig zu Sally Lanin zurückkehren. Solche Jugendverhältnisse sind für beide Teile nur Vorstudien für das spätere Leben. Die Stadtväter schüttelten die Köpfe, sie fanden das frivol. War der alte Herz nicht ein anständiger Mann und Bürger der Stadt, trotz seiner Ballettvergangenheit? Wurde er nicht in den besten Häusern empfangen? Nein, man durfte die Geschichte nicht so beurteilen, als wäre Rosa Herz die erstbeste. Gehört man zur guten Gesellschaft, so muss man sich auch danach benehmen, nicht wahr? Über Ambrosius waren alle einig, dass er ein liebenswürdiger, netter junger Mann sei. Leichtsinnig – ja! Aber er war jung und reicher Leute Kind. Der alte Herz, Rosa, Lanin, das waren die Schuldigen. Breitbeinig standen die erhitzten alten Herren auf der Rathaustreppe, ließen die Breloques auf den spitzen Bäuchen klirren und machten bedächtige Gesichter. Vor ihnen lag – in der Mittagsglut – der Marktplatz. Unter den leinenen Schutzdächern schlummerten die Verkäuferinnen mitten unter den Haufen grünen Gemüses. Landleute hatten sich auf das Pflaster gesetzt; einen Korb mit Eiern neben sich, ein mattes Huhn unter dem Arm, steckten sie ihre Köpfe über einem Suppentopf zusammen, kauten langsam und bedächtig, müde zu den sonnbeglänzten Dächern aufschauend. Nur wenige Käufer waren zu sehen. Hier und da ging eine alte Dame mit einer Handtasche am Arm kostend von Korb zu Korb, oder ein Kind stellte sich vor der Obstbude auf die Fußspitzen, um sich die größte Birne auszusuchen. Leute, die an der Rathaustreppe vorüber mussten, grüßten ehrerbietig hinauf, und die Stadtväter dankten, zogen ruhig und mechanisch, als Männer, die das Grüßen gewohnt sind, die Hüte ab und zeigten ihre blanken Glatzen.
»Meiner Seel! Da ist sie!« rief der Sekretär plötzlich.
»Wo – wo?« Alle reckten die Hälse, schützten mit der flachen Hand die Augen vor der Sonne.