Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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vie­le klei­ne blan­ke Punk­te durch­ein­an­der, im­mer schnel­ler, im­mer schnel­ler.«

      »So?« Rosa muss­te das auch se­hen. Ei­lig er­hob sie sich und streck­te sich ne­ben Am­bro­si­us hin. So la­gen sie bei­de auf dem Rücken, den Blick in das sanf­te Blau des Him­mels ver­lo­ren, und bei dem star­ren Em­por­schau­en zu dem lich­ten Rau­me wur­den sie von ei­nem an­ge­neh­men Ge­fühl des Schwin­dels ge­schüt­telt und ge­wiegt.

      »Es ist, als hin­ge man frei in der Luft – ganz frei – – ganz – ganz«; Rosa wie­der­hol­te die­ses Wort, dehn­te es, ließ es klin­gen, »ganz… ganz«, als woll­te sie mit der Ein­tö­nig­keit ih­rer Stim­me der Uner­meß­lich­keit dort oben er­wi­dern,

      »Willst du jetzt die Ge­schich­te hö­ren?« sag­te Am­bro­si­us plötz­lich.

      »Wel­che?« ver­setz­te Rosa zer­streut.

      »Wel­che? Wie kannst du so fra­gen? Ich mei­ne, ob du hö­ren willst, was Lan­ins ge­sagt ha­ben?«

      »Ja – er­zäh­le dei­ne Ge­schich­te.«

      »Mei­ne Ge­schich­te?«

      Wirk­lich, sag­te Rosa das nicht, als gin­ge sie die gan­ze An­ge­le­gen­heit nichts an? Wo hat­te sie nur plötz­lich die­sen hoch­mü­ti­gen Pro­tek­ti­ons­ton her? Er rich­te­te sich auf und woll­te et­was sa­gen – schwieg aber und starr­te Rosa ver­wun­dert an. Wie ver­zückt lag sie da – die Au­gen weit auf­ge­ris­sen, die Lip­pen halb ge­öff­net, die Wan­gen heiß­rot und rings um sie auf der Bank das Flim­mern der blon­den Haa­re.

      In Am­bro­si­us’ Au­gen reg­ten sich blan­ke gel­be Punk­te, er knie­te auf den Bo­den des Kah­nes nie­der, beug­te sich über Rosa und be­deck­te sie mit stür­mi­schen Lieb­ko­sun­gen, die ihr we­he­taten; an­fangs lach­te sie, noch halb be­wusst­los vom Em­por­star­ren, sie wehr­te sich nur matt und stieß kur­ze aus­ge­las­se­ne Rufe aus, wie ein Schul­mäd­chen, das sich mit sei­ner Ka­me­ra­din hetzt; plötz­lich aber ward sie ernst, stell­te sich ge­ra­de auf die Füße, strich sich das Haar aus dem hei­ßen Ge­sicht und sag­te lei­se: »O nein!«

      »Nein – nein«, wie­der­hol­te Am­bro­si­us. Er knie­te noch auf dem Bo­den des Kah­nes, ließ die Arme schlaff nie­der­hän­gen und hob zu Rosa ein bö­ses und den­noch kläg­li­ches Ge­sicht auf, wie ein Kind, dem man sein Spiel­zeug fort­ge­nom­men hat. »Wa­rum nicht?« frag­te er. Rosa blick­te zur Sei­te und streif­te nach­denk­lich die Blät­ter von den Er­len­zwei­gen, end­lich lä­chel­te sie wie­der, strich die Fal­ten ih­res Klei­des glatt und setz­te sich auf die Bank. »Komm! Sei ver­nünf­tig! Er­zäh­le, was ha­ben Lan­ins ge­sagt?« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, nahm sei­ne Hän­de in die ih­ren und strei­chel­te sie: »Komm« – sie ver­such­te es, ihn an den Rockaufschlä­gen em­por­zu­ziehn. Er aber fand in ihr wie­der jene über­le­ge­ne Pro­tek­ti­ons­mie­ne, die ihn ver­droß und der er sich – er fühl­te es wohl – den­noch beu­gen muss­te. Seuf­zend ließ er sich em­por­zie­hen, ließ sich den Hut auf­set­zen und die Kra­wat­te zu­recht­rücken und nahm die ru­hi­ge, ein­schmei­cheln­de Zärt­lich­keit, die Rosa über ihn brei­te­te, mit der Wür­de ei­nes Pa­scha ent­ge­gen.

      »Er­zäh­le also.«

      Am­bro­si­us ließ sein welt­män­ni­sches Räus­pern hö­ren, um sich wie­der die vor­neh­me Hal­tung ei­nes erns­ten Kom­mis zu ge­ben, und lä­chel­te ver­ächt­lich: »Gott, Lan­ins! Ich küm­me­re mich ver­dammt we­nig dar­um, was die sa­gen!«

      »Was ist denn ge­sche­hen?«

      »Nun, ihre Ge­sich­ter wa­ren sau­er ge­nug. Ich sah sie erst beim Nacht­mahl. Der On­kel, die Tan­te und Sal­ly sa­ßen um den Tisch mit Ge­sich­tern – so trau­rig, als läge ein To­ter statt des Kalbs­bra­tens auf der Schüs­sel. Ich wur­de na­tür­lich sehr kühl emp­fan­gen, und wäh­rend des Es­sens sprach kei­ner; nur die Tan­te flüs­ter­te zwei, drei Mal: ›Nimm doch, Am­bro­si­us! Hier ist But­ter, Am­bro­si­us! Ich will, dass je­der Haus­ge­nos­se ge­nug hat – un­ter al­len Um­stän­den.‹ Gott, und wie sie das her­aus­brach­te! Scheuß­lich!«

      »Und Sal­ly?« frag­te Rosa.

      »Sal­ly war noch im­mer in ih­rer Nacht­ja­cke und mit den Knol­len. Sie war sehr er­hitzt; ich glau­be, sie hat­te ge­weint. Ap­pe­tit hat­te sie kei­nen, das weiß ich! Al­ler­hand klei­ne Spei­sen stan­den für sie ganz al­lein auf dem Tisch, und die Tan­te jam­mer­te: ›Kind iss, nimm da­von; es wird dir gut­tun.‹

      Sal­ly aber schüt­tel­te nur den Kopf und seufz­te. Nicht um eine Mil­li­on, glau­be ich, hät­te sie vor mir einen Bis­sen über die Lip­pen ge­bracht. Das soll­te rüh­rend sein. Auf mich hat es gar kei­nen Ein­druck ge­macht. Ge­müt­lich war die Le­bens­la­ge nicht, das kannst du dir den­ken. Gleich nach dem Nacht­mahl woll­te ich ver­schwin­den, da flö­te­te die Tan­te: ›Lie­ber Am­bro­si­us, der On­kel hat mit dir zu spre­chen‹, da­bei schau­te sie den On­kel an, als woll­te sie sa­gen: ›Nun – marsch – vor­wärts.‹ Die dum­me Sal­ly nick­te dazu. Im Zim­mer des On­kels ging die Pre­digt an. Drei­vier­tel Stun­den hat er ge­spro­chen, ganz glatt. Ich glau­be, er hat­te es auf­ge­schrie­ben und aus­wen­dig ge­lernt. Was er da sag­te, habe ich na­tür­lich nicht be­hal­ten. Von der Wür­de des Hau­ses war die Rede, dann lob­te er sich selbst, end­lich die Sal­ly.«

      »Von mir war nicht die Rede?«

      »War­te nur, dann kam dei­ne Rei­he. ›Ei­ne jun­ge Per­son‹, sag­te er, ›die ih­rer ei­ge­nen Wür­de un­ein­ge­denk, mei­ner Seel’!‹ Er sag­te un­ein­ge­denk, wo der das nur her hat? ›Ei­ne Per­son, die wir aus dunklen Ver­hält­nis­sen in un­se­re Krei­se ge­zo­gen ha­ben, und zwar aus Mit­leid, hat dich zu ei­nem un­be­dach­ten Schritt ver­lei­tet. Ich hof­fe, du wirst ein­se­hen, dass die­se jun­ge Per­son, nach den letz­ten Er­eig­nis­sen, zu tief steht, um der ge­eig­ne­te Um­gang für den Nef­fen des Hau­ses La­nin zu sein. Ich hof­fe, du wirst ein­se­hen, dass das Un­mo­ra­li­sche ei­nes sol­chen Ver­hält­nis­ses dich kom­pro­mit­tiert, mich kom­pro­mit­tiert, uns kom­pro­mit­tiert.‹«

      Am­bro­si­us ahm­te sei­nen On­kel ganz tref­fend nach, da­bei er­ließ er Rosa je­doch nichts von all den Be­lei­di­gun­gen, die Herr La­nin ge­gen sie aus­ge­sto­ßen hat­te. Vi­el­leicht war das eine Art Ra­che für die Pro­tek­ti­ons­mie­ne und für die Macht, die das Mäd­chen sich über ihn an­ge­eig­net hat­te. Aber als er be­merk­te, dass Ro­sas Au­gen vol­ler Trä­nen stan­den, ward er be­stürzt. »Du wirst doch nicht über sol­chen Un­sinn wei­nen?« rief er has­tig.

      »Das könn­te mir ein­fal­len!« er­wi­der­te Rosa und lä­chel­te; die Trä­nen aber hör­ten nicht auf zu flie­ßen. Am­bro­si­us’ Er­zäh­lung be­trüb­te sie, es schi­en ihr, als er­nied­rig­ten Lan­ins Wor­te sie vor Am­bro­si­us, als könn­ten sie die­se von ihm tren­nen, und ohne ihn – was dann? Tra­ten die großen, schö­nen Er­eig­nis­se nicht ein, die sie er­war­te­te, an die sie fest glaub­te; ging Am­bro­si­us und ließ sie al­lein, oh, dann fie­len Lan­ins, Klappe­kahls – alle über sie her, hetz­ten und be­schimpf­ten und quäl­ten sie; dann wur­de sie eine nied­rig­ste­hen­de Per­son. Nein! Am­bro­si­us durf­te sie nicht ver­las­sen, auf ihn war ihr Le­ben ge­stellt – das ver­stand sie plötz­lich und um­klam­mer­te ihn fest. Am­bro­si­us war tief ge­rührt, es schmei­chel­te ihm, dass Rosa so lei­den­schaft­lich von ihm Be­sitz er­griff, und den­noch misch­te sich in die­ses Ge­fühl ein


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