Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
die meinem Herzen wehtat. All dieses Unpassende und Verletzende werde ich Ihnen nicht wiederholen. Wozu auch? Nur folgendes wird für Sie wichtig sein. Dass es mit allem, was ich gehört habe, auch ernstgemeint war, glaube ich nicht. Sie, Fräulein Rosa, werden ja selbst am besten wissen, was Sie davon zu denken haben. Nachdem also der Prinzipal sich über Sie in anstößiger Weise geäußert hatte, fragte er den Herrn T.: ›Willst du sie denn heiraten?‹ ›Ich weiß das noch nicht‹, sagte besagter Herr. ›Ich muss dich darauf aufmerksam machen‹, sagte der Prinzipal, ›dass ich deine Eltern von dem Geschehenen verständigt habe. Deine Eltern werden eine solche skandalöse Verbindung nie zugeben.‹ – ›Wieso – skandalös?‹ fragte Herr v. T. (mit vollem Recht, meiner Ansicht nach). ›Skandalös‹, sagte der Prinzipal, ›weil dieses Mädchen, an und für sich keine passende Partie für einen Tellerat, sich unverantwortlich kompromittiert hat. Die ganze Gesellschaft sagt sich von einem jungen Mädchen los, das durch seine frechen Unziemlichkeiten (ein sehr gemeiner Ausdruck!) jede Achtung verscherzt hat. Und solch eine Person (sic!) willst du heiraten?‹ – ›Ich sage nicht, dass ich sie heiraten werde‹, meinte Herr v. T. ›Du wirst sie also nicht heiraten‹, sagte der Prinzipal. – ›Nein‹, antwortete Herr v. T. ›Du gibst mir dein Wort darauf?‹ sagte der Prinzipal. ›Damit ihr das Mädchen nicht länger quält, gebe ich dir mein Wort‹, sagte Herr v. T. ›Gut!‹ sagte der Prinzipal. ›Du versprichst mir, das Mädchen nicht wiederzusehen.‹ ›Das habe ich nicht gesagt‹, meinte Herr v. T. (mit Recht). ›Nun‹, sagte der Prinzipal. ›Du kehrst ohnehin morgen oder übermorgen zu deinen Eltern zurück.‹ Damit hatte das Gespräch sein Ende erreicht, denn Fräulein Sally kam mit ihren Geschichten dazwischen. Sie, bei Ihrer Gescheitheit, werden gewiss wissen, was davon zu halten ist. Ich aber hielt es für meine Pflicht, obiges Ihnen mitzuteilen. Kann ich Ihnen von Nutzen sein, Fräulein Rosa, und hier komme ich auf Punkt 2 zu sprechen, so bitte ich nach Gefallen über mich zu verfügen, denn mit nie wankender Achtung und (wenn es erlaubt ist) mit Liebe bleibe ich Ihr treuester Diener.
Conrad Lurch, zweiter Kommis bei Lanin und –«
Langsam faltete Rosa das Blatt wieder zusammen. Wie? Ambrosius gab das Versprechen, sie nicht heiraten zu wollen? Ambrosius sollte fort? Das war unmöglich; sie verstand von alledem kein Wort. »Unsinn!« sagte sie laut vor sich hin, zerknitterte energisch den Brief und steckte ihn in die Tasche.
Unsinn war es vielleicht, aber als Rosa zu Hause beim Mittagsmahl saß und die bekannten Geschichten ihres Vaters anhörte, da wollte ihr dieser Unsinn doch nicht aus dem Kopf, denn wenn sie auch alles Unwahrscheinliche und Lächerliche von Lurchs Bericht in Rechnung zog, es blieb immer noch ein bitterer Rest quälender Sorge übrig.
Nach der Mahlzeit zog sich Rosa auf ihr Zimmer zurück, setzte sich auf einen Sessel, faltete die Hände im Schoß und wartete. Fräulein Schank sollte ja kommen, um dem Vater alles zu sagen, und was wurde dann aus dem schläfrigen Frieden der Herzschen Wohnung? Vielleicht wäre es besser, den Vater auf alles vorzubereiten? Rosa aber fand dazu nicht den Mut. Sie wollte lieber warten. Gar so schlimm konnte es ja nicht kommen.
Um vier Uhr gab die Türglocke einen kurzen, harten Laut von sich. Das war Fräulein Schanks energische Art zu schellen. Agnes schurrte heran, die Außentüre, die Agnes immer zu ölen vergaß, knarrte. »Guten Abend, Fräulein!« sagte Agnes.
»Grüß Sie Gott«, antwortete Fräulein Schanks feste, metallige Stimme. »Ist der Herr zu Hause?«
»Ja, er schläft drinnen im Wohnzimmer.«
Jetzt ward die Türe des Wohnzimmers geöffnet.
»Störe ich?« fragte Fräulein Schank.
Herr Herz schien eben aus dem Schlafe aufgefahren zu sein, denn seine Stimme war noch heiser. »Ach, liebe Schank, Sie stören nie. Ich schlafe jetzt immer so lange und bin froh, wenn jemand mich weckt. Diese Schlafsucht kommt, denke ich, mit dem zunehmenden Alter.«
Er wollte sich noch weiter über seinen Zustand auslassen, aber Fräulein Schank unterbrach ihn: »Ist Rosa zu Hause?«
»Ja; sie schläft, denke ich. Sie sah mir heute nicht ganz gesund aus.«
An der zaghaften Art, in der der Vater sprach, erkannte Rosa, dass Fräulein Schank ihr unheilverkündendes Gesicht aufgesetzt hatte. Übrigens wollte sie ihren Vater nicht Lügen strafen; sie warf sich auf ihr Bett und stellte sich schlafend.
Im Nebenzimmer wurden Sessel gerückt, dann begann Fräulein Schank zu sprechen, aber so leise, dass Rosa sie nicht verstehen konnte. Herr Herz schwieg, nur zuweilen ließ er ein leises Husten hören. »Geben wir uns keinen Illusionen hin«, das war der einzige Satz, der bis zu Rosa drang, und er genügte, um Rosa gegen Fräulein Schank aufzubringen. »Ah, die Alte hält die Heirat mit Ambrosius für eine Illusion! Natürlich, was weiß diese alte, auf dem Katheder vertrocknete Frau von Liebe? Sie soll da einen Lehrer Streber gehabt haben, mit dem sie verlobt war, er ließ sie aber sitzen und reiste ab. Und das ist auch schon so lange her – und kann denn bei einem Lehrer Streber überhaupt von Liebe die Rede sein? Lächerlich!«
»Sie sprechen also mit Rosa?« sagte Herr Herz jetzt leise.
»Ja, ich will wenigstens zu ihr hineinschauen«, entgegnete Fräulein Schank und öffnete die Türe zu Rosas Zimmer. Rosa schloss die Augen und regte sich nicht. »Sie schläft«, flüsterte Fräulein Schank; »sollen wir sie wecken?«
»Nein, lassen Sie sie schlafen«, flehte Herr Herz; »sie erfährt es ja ohnehin früh genug.«
»Gut, ich komme morgen wieder«, meinte Fräulein Schank. »Auf Wiedersehen, lieber Herz! Sie verzeihen, dass ich die Überbringerin so schlechter Nachrichten bin; ich hielt es aber für meine Pflicht.«
»Im Gegenteil, ich bin Ihnen dankbar, liebe Schank«, antwortete Herr Herz. »Verlassen Sie das Kind nicht; ich unbeholfener Alter, was kann ich tun?«
»Der liebe Gott wird schon alles zum Guten wenden«, tröstete Fräulein Schank. Dann kam Agnes wieder mit ihrem »Guten Abend, Fräulein!«, die Außentüre knarrte, und es ward still, ganz still.
Abendliche Schatten zogen in die Wohnung des Ballettänzers ein – es wurde finster. Rosa lag noch immer auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit hinein.
Im Wohnzimmer saß der alte Mann, faltete seine Hände über den spitzen Knien und weinte; und draußen, in der Küche, lehnte Agnes Stockmaier am Fenster und blickte traurig auf den leeren Hof hinab.
Spät abends erst entschloss sich Rosa, zu ihrem Vater hinüberzugehen. Im Wohnzimmer war es so finster, dass Rosa unsicher umhertappte.
»Kind,