Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
von alledem nichts gewusst.«
»Du hättest es aber wissen sollen«, rief das empörte Mädchen. »Konntest du ihm nicht Andeutungen machen, dass… nun, mein Gott! Du weißt es ja besser als ich. Ganz verdammen kann ich ihn nicht; er ist leichtsinnig, aber nicht schlecht. Weil ihr ihm gar keine Andeutungen gemacht habt, so hielt er seine… seine Achtung für mich für aussichtslos; denn Achtung hegt er wenigstens für mich. Ich bin anfangs natürlich zurückhaltend gegen ihn gewesen; zuweilen fast streng. Ja, aber das ist so mein keusches Wesen. Ich bin keusch durch und durch. Einmal griff er mit mir zugleich in den Brotkorb und streifte meinen Finger; du verstehst? Da schaute ich ihn vorwurfsvoll und ernst an. Vielleicht glaubte er, ich weise ihn ab, und geriet – in seiner Verzweiflung auf Abwege. Alles ist möglich. Er kann noch gerettet werden; nur darf er sie nicht wiedersehen.«
»Bestes Kind«, begann Frau Lanin, »warum bist du auch so abweisend gegen ihn gewesen? Du hättest doch freundlicher sein können. Ich sehe nichts darin, dass er deinen Finger berührt; daraus macht man einen Scherz. Du konntest zum Beispiel ihn neckend auf die Hand schlagen, das macht sich ganz gut, oder so etwas.«
»Nein, nein«, rief Fräulein Sally entschlossen. Sie hüllte sich in das blaue Kamisol wie in einen Vestalinnenschleier, und die Knollen auf ihrer Stirn bebten. »Nein, das kann ich nicht, das ist gegen mein Naturell. Ich bin ernst und sinnig angelegt. So etwas tue ich nicht.«
»Schön, liebes Kind«, meinte Frau Lanin gereizt. »Man darf nur nicht so ernst und sinnig sein, dass man sitzen bleibt.«
»Sitzen bleibt?« Fräulein Sally ward feuerrot. »Gut – du beleidigst mich? Ach, sehr mütterlich, sehr christlich! Du nimmst den Menschen ins Haus, damit ich mich an ihn gewöhne; du machst mir Andeutungen und Hoffnungen, und läuft er endlich irgendeiner Person nach, dann beleidigst du mich noch. Sehr gut, dass ich das weiß. Jetzt erst fühle ich es, dass ich ganz allein auf mich selbst angewiesen bin, wie eine Waise.«
Tragisch strich sie sich die Knollen aus der Stirn und wollte stolz das Zimmer verlassen, ihre Mutter hielt sie jedoch mit schmelzender Stimme zurück. »Warte, Kind, so schlimm war’s ja nicht gemeint. Morgen sprechen wir mehr hierüber. Wir belauschen sie, weißt du. Vor allem aber verbiete ich der Rosa das Haus.«
»Nenne sie nicht Rosa«, befahl Fräulein Sally.
»Sie heißt doch so.«
»Nein, für mich gibt es keine Rosa mehr, für mich ist sie nur noch eine – Person.«
»Ah so –«
»Ja. Gute Nacht – ich muss allein sein. Wahrscheinlich werde ich weinen.«
Fräulein Sally verließ das Zimmer.
Sehr wahrscheinlich ist es, dass Fräulein Sally noch in ihrem Zimmer geweint hat, denn sie war am folgenden Morgen nicht imstande auszugehen. Sie saß hinter geschlossenen Vorhängen und zankte mit dem kleinen Dienstmädchen, weil es die armen Nerven seiner Herrin mit seinem lauten Wesen auf die Folter spannte.
Zu Mittag erschien Fräulein Sally im blauen Kamisol und mit Haarknollen, und auf Ambrosius’ liebenswürdige Frage, was ihr fehle, erwiderte sie ein »Nichts«, das ebensogut bedeuten konnte: Ich habe die Pest.
Sofort nach dem Mittagessen eilte Fräulein Sally, den Zahnstocher noch zwischen den Lippen, in das Wohnzimmer, zog die Vorhänge zurecht, vergrößerte das gestern gemachte Loch, rückte zwei Sessel heran und wartete. An die Fensterbank gelehnt, biss sie an ihrem Zahnstocher herum, schüttelte die Haarknollen und schaute vor sich nieder. Die Aufregung, die sie bisher beseelt hatte, schwand in der heißen Stille dieses Gemaches. Die ehrwürdig solide Welt der Firma Lanin, über der jetzt eine Wolke von Sonnenstäubchen und der Duft der Mittagssuppe lag, machte Fräulein Sally traurig. An die Stelle der Verachtung für die freche Person, die sich am Trödlerhause von Ambrosius küssen ließ, trat der Neid. Gern hätte Fräulein Sally auch eine heimliche Liebe gehabt, um sie in einem sonnigen Winkel zu verbergen. Ihr Herz ward sehr schwer bei dem Gedanken an die belauschte Liebesszene. Es musste guttun, wenn er einen so umfasste, wenn er…
»Geht es schon an?« fragte Frau Lanin und schurrte herbei.
»Nein«, erwiderte Fräulein Sally kurz und wandte sich ab, denn sie fühlte, dass ihre Augen voller Tränen standen.
»So!« meinte Frau Lanin und gähnte.
Dieses Gähnen empörte Fräulein Sally; sie bezwang sich jedoch und sagte nur bitter: »Ja – so –«
Mutter und Tochter saßen nun einander gegenüber und schauten die Arabesken des Vorhanges an. Zuweilen erhob sich Fräulein Sally, spähte durch das Guckloch auf die Straße hinaus und meldete: »Nichts.«
»Wo bleiben sie nur?« seufzte Frau Lanin schläfrig.
Endlich, als Fräulein Sally wieder ihr Auge an das Löchlein brachte, blieb sie daran kleben.
»Was gibt es?« forschte Frau Lanin. Ihre Tochter schwieg. »Siehst du etwas?« Fräulein Sally antwortete nicht. »Geh, sag, sind sie da?« rief Frau Lanin und erhob sich. Sie preßte ihre schlaffe, weiche Wange an die heiße Wange ihrer Tochter, um zu dem Guckloch zu gelangen; die heiße Wange hielt jedoch stand, und die beiden fest aneinandergedrückten Gesichter verzogen sich seltsam, ein jedes aus Ärger über das andere. »Sag, sind sie da oder nicht?« befahl Frau Lanin jetzt streng.
»Ja doch!« erwiderte Fräulein Sally ungeduldig.
»So lass es mich sehen!«
»Warte.«
»Du hast lange genug hinausgeschaut.«
Vergebens! Unentschlossen und unglücklich blickte Frau Lanin um sich. Was sollte sie tun? Wie sollte sie den Starrsinn ihrer Tochter brechen? Die Zeit verstrich, während sich draußen die interessantesten Dinge abspielten. »Sallychen«, begann sie wieder – im ernsten Ton der Ermahnung, »verlass das Fenster, ich wünsche es. Du siehst Dinge mit an, die sich für ein junges Mädchen nicht schicken. Bisher habe ich dich sorgsam behütet, habe alles Böse von dir ferne gehalten. Ich habe es sogar verboten, dass du dich mit Hühnerzucht abgibst, du weißt, der Papa war auch dagegen. Und nun so was! Sally – Kind – höre.« Das Kind rührte sich nicht. »Sally«, fuhr Frau Lanin in inbrünstigem Gebetston fort, »gehorche deiner Mutter. Ich muss für deine Seele dort oben verantworten. Sally! Bedenke, dass ein höherer Richter auf dich herabsieht. Denke daran, was Raser vorigen Sonntag in der Kirche sagte.«
Fräulein Sally wurde unruhig und drückte ihren Kopf fester gegen den Vorhang.
»So sage wenigstens, was du siehst«, flüsterte Frau Lanin weinerlich.
»Still!