Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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Sie gähn­te; deut­lich sah Rosa den weit­ge­öff­ne­ten Mund. Die Frau er­griff die Lam­pe, und bei­de ver­schwan­den. Rosa wand­te sich schnell ab – dort im Spei­se­saal sa­ßen sie noch alle bei­sam­men in der trü­ben Luft, un­ter den Ker­zen, die jetzt dun­kel brann­ten. Herr La­nin beug­te sich über den Tisch und starr­te vor sich hin, sein Ge­sicht war dun­kel­rot, und er at­me­te schwer. Klappe­kahl rauch­te eine Zi­ga­ret­te. Er hat­te den Arm über die Leh­ne sei­nes Stuh­les ge­legt und er­zähl­te Ma­ri­an­ne Schulz et­was, blick­te je­doch be­stän­dig in den Spie­gel, der ihm ge­gen­über hing. Am­bro­si­us saß noch auf dem Stuhl, den Rosa ihm ab­ge­tre­ten hat­te, und un­ter­hielt sich mit Tod­dels. Auf­merk­sam be­trach­te­te Rosa das Ni­cken die­ses glatt­ge­kämm­ten Zop­fes, und die Art, wie Am­bro­si­us ein Brot über sei­nem Tel­ler brach, fand sie schön. O ja, sie lieb­te ihn! Sie wuss­te das ganz ge­wiss. So und nicht an­ders war es, wenn man lieb­te. Nun konn­te al­les groß und herr­lich wer­den; und war es nicht schon groß und herr­lich? Der ge­füll­te Eß­saal, das Licht, das in den Bow­leglä­sern blitz­te, das Stim­men­ge­s­ur­re – der star­ke Duft von Spei­sen, Wein, Zi­gar­ren –, war das nicht schon ein Stück der großen Welt? Ein schläf­ri­ges wei­ßes Ge­sicht, das sich mit sei­ner Nacht­hau­be gäh­nend zu Bet­te leg­te, muss­te man ver­ach­ten und be­mit­lei­den. Rosa stell­te sich vor den Spie­gel und drück­te die ge­fal­te­ten Hän­de auf den Gür­tel. Hübsch war es, wie das ro­si­ge blon­de Mäd­chen dort im Spie­gel so tra­gisch die Hän­de auf das Herz preß­te. »Lieb­chen«, sag­te Rosa vor sich hin, und bei die­sem Wort ward ihr zu­mut, als müss­te sie et­was Tol­les be­gin­nen, ihr Kleid tiefer von der Schul­ter ziehn – laut auf­schrei­en – sie wuss­te es selbst nicht…

      »Sehr be­dau­er­lich, dass in der Schu­le kein Spie­gel hängt, sie wür­de dich dann viel­leicht eher fes­seln.« Fräu­lein Schank mach­te die­se Be­mer­kung und mus­ter­te ihre Schü­le­rin mit säu­er­li­chem Blick: »Lie­be Rosa«, fuhr sie fort, »be­nimm dich ein we­nig ge­setz­ter. Sich doch Sal­ly an; wie ist sie heu­te al­ler­liebst! – Wer hat dein Kleid so toll aus­ge­schnit­ten? Es ist un­er­laubt. Mor­gen bringst du’s mir; ich wer­de es än­dern. Bald ist es auch elf Uhr; man muss ans Schla­fen­ge­hen den­ken.« Rosa warf einen bit­ter­bö­sen Blick auf die alte Dame, sie hät­te sie schla­gen mö­gen und lief has­tig fort – mit großer Ent­rüs­tung im Her­zen.

      Im Zo­fen­zim­mer saß Ag­nes am Tisch und schlief, den Kopf auf die Brust ge­senkt. Rosa kau­er­te sich auf dem Sofa hin, zog die Knie an sich, um­fass­te sie mit bei­den Ar­men, stütz­te ih­ren Kopf dar­auf und wein­te. Zu­wei­len schau­te sie auf, und dann ruh­ten ihre Bli­cke sin­nend auf dem stil­len Bil­de vor ihr. Ag­nes’ al­tes, schlum­mern­des Ge­sicht un­ter den trü­ben Flam­men der Ker­ze, die durch Ro­sas Trä­nen mit wun­der­lich krau­sen Strah­len um­ringt schi­en. – – –

      Mu­sik scholl her­über. Fräu­lein Sal­ly trat ins Ge­mach. »Rosa!« rief sie, »bist du hier? Was treibst du?« Rosa er­wi­der­te nichts und blick­te starr vor sich hin, die Le­bens­la­ge, die sie eben noch so drückend emp­fun­den hat­te, dünk­te ihr jetzt, da sie be­merkt ward, in­ter­essant.

      »Wa­rum so al­lein?« fuhr Fräu­lein Sal­ly fort und setz­te sich ne­ben ihre Freun­din. »Du hast ge­weint? Sag, was gibt es?«

      »Nichts«, ent­geg­ne­te Rosa ge­heim­nis­voll.

      »Doch, mein Herz!« Fräu­lein Sal­ly wur­de zärt­lich und strich Rosa das Haar an den Schlä­fen glatt. »Sag es mir.«

      »Nichts. Es über­kam mich so.«

      »Ja, das pas­siert mir auch häu­fig. Eben noch dach­te ich an den ar­men On­kel. Weißt du, mit­ten in all der Lust schnür­te es mir das Herz zu­sam­men. Es reg­ne­te, und ich muss­te den­ken, jetzt liegt er in sei­nem Gra­be, bei dem Wet­ter; und erst im Herbst, wenn der Sturm, weißt du, um den Grab­hü­gel heult – oder Schnee… Ach, er war so gut!« Fräu­lein Sal­ly wisch­te sich mit dem Ta­schen­tuch die Au­gen und trock­ne­te dann auch Ro­sas Trä­nen. »Komm! Man tanzt den Sou­per-Wal­zer. Un­se­re Ab­we­sen­heit könn­te auf­fal­len. Komm! Lass uns mu­tig sein.« Die Arme zärt­lich in­ein­an­der ver­schlun­gen, kehr­ten die Freun­din­nen mit lang­sa­men, mü­den Schrit­ten in den Saal zu­rück. Dort dreh­ten sich wie­der die schwar­zen Bei­ne und wei­ßen Rö­cke um­ein­an­der. Die tan­zen­den Füße über­tön­ten mit ih­rem schar­ren­den Geräusch die sechs sich stets wie­der­ho­len­den Wal­zer­tak­te des Fräu­lein Wut­ter. Die jun­gen Leu­te be­trie­ben ihr lus­ti­ges Ge­schäft mit atem­lo­sem Ei­fer, die rück­sichts­lo­se Hast, in der die Her­ren nach den er­hitz­ten Däm­chen grif­fen, zeig­te, wie ei­nem je­den die schnel­le, tol­le Be­we­gung das Wich­tigs­te war, und im ge­mein­sa­men Ver­gnü­gen ver­gaß ei­ner des an­de­ren Per­son. Den­noch zeig­te sich nur sel­ten ein Lä­cheln auf den jun­gen Ge­sich­tern. Die Da­men hat­ten rote Wan­gen und leuch­ten­de, ver­wun­der­te Au­gen. Ihr Blut, von Wein und Be­we­gung er­hitzt, schi­en den jun­gen Her­zen et­was Erns­te­res zu pre­di­gen, das sich in den Tanz misch­te – et­was, das die we­nigs­ten ver­stan­den.

      »Wir ha­ben Sie ge­sucht, Fräu­lein La­nin!« rief Tod­dels. »Bei Gott, wie eine Steck­na­del ha­ben wir Sie ge­sucht! Ich bit­te um Ihren Wal­zer, Sie sind das mir und sich selbst schul­dig.« Fräu­lein Sal­ly nick­te und warf sich hin­ge­bend in die lan­gen schwar­zen Arme des jun­gen Tod­dels. Rosa tanz­te mit ei­nem vier­schrö­ti­gen Se­kun­da­ner, ei­nem so­ge­nann­ten »for­schen« Tän­zer, der laut mit den Ab­sät­zen auf­klapp­te und mit zu­rück­ge­wor­fe­nem Kopf, die Au­gen halb ge­schlos­sen, durch den Saal rann­te. Als sie an der Türe des Eß­saa­l­es vor­über­tanz­ten, sah Rosa Lurch an der halb ab­ge­deck­ten Ta­fel sit­zen. Her­weg stand vor ihm und trank ihm zu; bei­de lach­ten, wo­bei Lurch den Mund weit und schmerz­voll öff­ne­te.

      »Aha! Koll­hardt hat den Lurch vor. Das wird Scherz ge­ben«, be­merk­te der Se­kun­da­ner Ge­or­ges – Ro­sas Tän­zer.

      »Was tut er ihm?« frag­te Rosa.

      »Nichts, mein Fräu­lein, Sie kön­nen un­be­sorgt sein; er säuft ihn nur ein we­nig ein«, er­wi­der­te Ge­or­ges sehr höf­lich.

      Ma­ri­an­ne Schulz saß ker­zen­ge­ra­de auf ih­rem Stuhl und war­te­te: »Wie­viel Uhr ist’s, Herr Tod­dels – bit­te«, flüs­ter­te sie. »Drei­vier­tel elf«, er­wi­der­te er hoch­mü­tig und bat Fräu­lein Klappe­kahl um ih­ren Tanz. »Gott sei Dank, erst drei­vier­tel elf!« rief Ma­ri­an­ne aus. Sie fal­te­te ihre ro­ten Händ­chen, blick­te mit den kla­ren run­den Au­gen still vor sich hin und war­te­te auf das große Glück des Abends.

      »Wie fin­den Sie die Rosa Herz heu­te abend?« frag­te Frau La­nin den Apo­the­ker.

      »Sü­perb! Sie ist so – so –«, Klappe­kahl streck­te sei­ne fünf Fin­ger em­por, um et­was sehr fei­nes an­zu­deu­ten, wo­für er das rech­te Wort nicht fand.

      »Ja, o ja!« nahm Frau La­nin wie­der sanft und freund­lich das Wort. »Sehr hübsch und mun­ter. Fin­den Sie nicht, dass sie ein we­nig –«, Frau La­nin lä­chel­te fromm, »ein we­nig un­pas­send ist? Sie hat et­was, das nicht hier­her ge­hört. Na­tür­lich nichts Schlech­tes! Aber doch et­was Ple­be­ji­sches.«

      »So?« mein­te Klappe­kahl ernst. »O ja! Es ist so et­was – so…« Wie­der ho­ben sich die fünf Fin­ger, die­ses Mal aber be­weg­ten sie sich.

      »Nichts Schlech­tes!« fuhr Frau La­nin fort. »Nein! Ich lie­be das gute Kind. Ach


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