Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
den Hosentaschen, die Zigaretten im Mundwinkel – und scherzten über den Vorgang. Der Tellerat war ihr Bekannter, ein fixer Kerl, der Tellerat! Sie lachten mit aufgeblasenen Backen und wandten sich nach den Vorübergehenden um, stolz auf ihre eigene Munterkeit.
Frau Lanin stand vor ihrer Haustüre und sprach mit der Gewürzkrämerin von nebenan, einer kleinen hageren Frau mit rotgeränderten Augen, die immer Trauer und nie einen Halskragen trug. Nur durch die halbgeöffnete Türe verkehrte Frau Lanin mit der Witwe Tanke, denn diese gehörte nicht zur guten Gesellschaft. Sie wusste aber alles, was vorging, und besaß eine so klare, unumwundene Art, sich auszudrücken, einem jeden jedes zuzutrauen, dass Frau Lanin oft solch ein Plauderstündchen an der Haustüre veranlasste. Heute konnte Frau Tanke genaue Nachrichten über die jüngsten Ereignisse geben. Sie hatte den Juden, Ida, die Jüdin ausgefragt. Sie wusste, dass die Trödlerwohnung für Rosa geschmückt worden war, wusste, wann Rosa zu kommen, wann sie zu gehen pflegte.
Klappekahl und Dr. Holte unterhielten sich auch über Rosa, während sie langsam nebeneinander hergingen. Der Doktor hatte alles vorhergesehen, alles, »vermittelst einer physischen Diagnose – verstehen Sie«. Klappekahl hatte hundert ähnliche Fälle erlebt – in der Großstadt natürlich. »Aber sie sieht brillant aus, die Rosette«, wiederholte er immer wieder und leckte sich die Lippen.
Wenn die Leute an der Herzschen Wohnung vorübergingen, blieben sie einen Augenblick stehen, schauten zu dem geöffneten Fenster des zweiten Stockes empor – und dort oben, zwischen den weißen Vorhängen, zwischen den Geraniumstauden, schimmerte es wie das Stück eines blonden Zopfes hervor. Einer zeigte es dem anderen. »Das ist sie.« – »Sie irren, das ist nur der Widerschein der Sonne.« – »Nein doch! Ich seh es zu genau. Es bewegt sich ja. Sie ist es, wenn ich’s Ihnen sage.«
Sally aber konnte jetzt zu dem blonden Gegenstande zwischen den Geraniumblättern mit ungemischter Verachtung hinaufblicken.
Zweites Kapitel
Die Leute auf der Straße sahen ganz recht – Rosas Zöpfe waren es, die zwischen den Vorhängen hervorschimmerten. Sie selbst saß am Fenster, den Rücken an die Fensterbank gelehnt, die Füße einen über den anderen gelehnt und von sich gestreckt. So hatte sie den ganzen Tag über dagesessen, mit klaren, weit offenen Augen auf die gegenüberliegende Wand blickend, die Lippen sehr rot in dem weißen Gesicht.
»Willst du nicht essen?« fragte Agnes. »Iss etwas, Kind«, sagte Herr Herz. »Nein – ich danke«, erwiderte Rosa sanft. Sie wollte bleiben, wo sie war. Das Leben würde nun wieder seinen gewohnten Gang gehen – möglich! Sie mochte jedoch nichts dazu tun. In die Vergangenheit zurückzuschauen wagte sie nicht – in der Zukunft lag nichts, was des Ansehens wert war – so war Rosa denn auf den Augenblick angewiesen, auf jene Augenblicke, die ihr die Wanduhr mit dem brummigen Ticktack leer und gleichförmig einzählte. Sie fühlte sich müde – zu müde selbst, um sehr unglücklich sein zu können.
In der letztvergangenen Nacht, ja – da hatte sie es erfahren, was es heißt, recht von Herzen elend sein! – Furchtbar war es, wie ihr Vater in der Nacht vor ihr stand, bleich, mit emporgezogenen Augenbrauen, das Gesicht seltsam starr. Er beugte sich zu Rosa herab und leuchtete ihr in das Gesicht: »Sie schläft nicht«, sagte er zu Agnes, die todesbleich hinter ihm stand, als wäre sie eben aus einem bösen Traume aufgefahren.
»Wir werden sie entkleiden müssen«, meinte Agnes. Ihre Stimme und auch die des Vaters hatten einen gezwungenen, ruhigen Klang. Sie sprachen nicht leise, es war, als sprächen sie von jemandem, der sie nicht mehr hören konnte. – Sie richteten Rosa auf, entkleideten sie – ohne eine Frage, ohne ein Wort, das ihr galt; und doch waren ihre Augen geöffnet, und sie hörte alles. Sie ward ins Bett gelegt – warm zugedeckt. Der Vater und Agnes riefen sich über sie hinweg kurze Anordnungen zu. »Noch eine Decke.« – »Zieh ihr die Decke über die Schultern.« Es war, als sargten sie eine Tote ein. Bevor sie das Zimmer verließen, legte der Vater seine Hand sanft auf Rosas Kopf, und sie spürte es durch das Haar hindurch, wie kalt diese Hand war und wie sie zitterte. – Dann ward es still und dunkel, nur durch die halb angelehnte Türe fiel ein schmaler Lichtstreif in das Zimmer. Dort, nebenan, saßen sie wohl auf und wachten.
Anfangs lag Rosa ruhig da; sie war müde, sie fror, sie glaubte schlafen zu können – und mit Behagen streckte sie die Glieder. Kaum jedoch schloss sie die Augen, als die Ereignisse des Tages, die Stunden und Lebenslagen wirr ineinanderflossen. Es war ihr, als läge sie wieder auf ihrem Bett, um die Stunde der Flucht zu erwarten; erschrocken fuhr sie auf, um sich nicht zu verspäten, und wenn sie sich – in der Stille und Finsternis ringsum – entsann, dass ja alles aus war, dann ward sie von verzweifeltem Schmerz geschüttelt. Die Augen heiß von Tränen, fiel sie in die Kissen zurück. Sie stöhnte, wie von körperlichem Schmerz gequält. Mit den Füßen zerstampfte sie das Bettuch. Nein, sie konnte es nicht ertragen! Ihre Kissen mit den Armen zerdrückend, warf sie sich hin und her. Es war wie ein Kampf mit dem großen Leid, welches ihr das Herz abdrückte, ein Ringen, das sie zuweilen innehalten ließ, Hände und Füße von sich gestreckt – die Lippen geöffnet – stark atmend.
Plötzlich stieg in ihr der Gedanke auf, wenn alles dies nur Traum wäre; wenn sie aufwachte und neben Ambrosius im Postwagen säße. Wenn alles, alles durch ein Wunder anders, besser würde und sie den schrecklichen Montag nicht zu erwarten brauchte. »Lass es – lass es geschehen«, betete sie und richtete sich auf, um umherzutasten – ob das Wunder nicht vollzogen sei. Nein – nein! Alles blieb beim alten! Bitter enttäuscht stützte Rosa die Stirn an die Wand. – Aber – wenigstens musste eine große Krankheit kommen, vielleicht konnte sie sterben. Ihre Stirn brannte, ihr Herz pochte zum Zerspringen, die Glieder waren schwer wie Blei und wurden von heftigem Frost geschüttelt. Das war die Krankheit – ohne Zweifel! Es wäre zu lächerlich, demütigend und traurig, morgen aufzustehen, sich anzukleiden, als wäre nichts vorgefallen. Die Krankheit konnte über so manches hinweghelfen. Nun lag Rosa da und wartete. Zuweilen fasste sie ihr Handgelenk, um sich zu überzeugen, ob das Fieber schon da sei.
Sie warf die Decke von sich, sie mochte sich nicht schützen; sie fror – gut – um so besser!
Die Nachtstunden verrannen. Zwischen den Vorhängen hindurch drang ein staubgraues Dämmern in das Zimmer, ein trüb-nüchternes Licht, das schwere Traurigkeit um sich verbreitete.
Da war er also, dieser Tag, den Rosa fürchtete; fahl – grau – trostlos leer in seiner harten, gleichmäßigen Dämmerung kroch er herauf. Große Müdigkeit ergriff Rosa. Sie versteckte ihr Gesicht in den Kissen, um den Tag nicht zu sehen,