Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
und fragte munter: »Nun, Kind, wie geht es?« – »Gut, Papa«, erwiderte Rosa. Dann schwiegen beide wieder. Was hätte Herr Herz sagen können, ohne sein Kind zu verletzen, ohne eine Wunde zu berühren? Er begnügte sich also damit, Rosa verstohlen zu beobachten, einen Walzer zu pfeifen und mit auswärts gebogenen Füßen auf dem grünen Laufteppich hin und her zu gehen. Der arme Mann hatte nach langer Zeit wieder jenes hilflose Gefühl, das ihn früher, während seines Theaterlebens, oft so tiefelend gemacht hatte – wenn kein Geld im Hause war – kein Engagement in Aussicht; wenn alle Viertelstunde ein Gläubiger an der Türe schellte und seine Frau zornig und voller Verachtung vor ihm in der Sofaecke kauerte und ihm Vorwürfe machte, über das Hundeleben, das er ihr bereitete, wenn sie ihm sagte, es täte ihr leid, die Anträge des vornehmen Herrn, der sie gestern besucht hatte, nicht angenommen zu haben. In solchen Augenblicken sagte er sich wohl, er sei von der Vorsehung ausersehen, nur Schande und Pein hinunterwürgen zu müssen. Aber damals stellte sich immer wieder der Leichtsinn ein, der ihm zurief: »Es hat sich bisher immer ein Ausweg gefunden, er wird sich auch jetzt finden lassen.« Der göttliche Leichtsinn, der alles – gut oder schlecht – wieder in das rechte Geleise brachte! – Heute jedoch blieb dieser tröstende Leichtsinn aus. Herr Herz war alt geworden und hatte sich entwöhnt, allen möglichen Widerwärtigkeiten in das Gesicht zu sehen.
Während er in seinem Wohnzimmer mit der solid-bürgerlichen Einrichtung, den freundlichen Sonnenschein auf den Wänden, den gut gebohnerten Fußboden auf und ab schritt, stieg in ihm plötzlich die Erinnerung an all die wirren, hässlichen Ereignisse auf, an die er sonst nie dachte, die weit hinter ihm zu liegen und abgetan zu sein schienen. Nun plötzlich waren sie wieder da, nun zogen sie in diese Räume ein, die Fräulein Ina ganz mit dem Weihrauch bürgerlicher Ehrbarkeit erfüllt hatte. Szenen betrogener Liebe, verführter Mädchen sind ein notwendiges Zubehör eines ärmlichen Komödiantenlebens und passen in das Leben eines geachteten Mannes, der Mitglied des Bürgerklub ist, ebensowenig hinein wie Betteln um Vorschuss und Ausreißen vor Gläubigern. Wie hatte er sich gefreut, die stillen, klaren Höhen einer ehrbaren Existenz erklommen zu haben. Er hatte gehofft, Rosa eine Zukunft in der guten Gesellschaft bereiten, sie vor dem unreinlichen Elend seiner Vergangenheit bewahren zu können. Nun war es nichts damit. Wieder erschien der leichtsinnige junge Herr mit schön gescheitelten Haaren und den unverschämten Manieren, um das Herzsche Familienglück zu stören.
Als die arme Zerline noch lebte, war dieser reiche, gutgekleidete, verliebte Herr der Fluch des Ballettänzers gewesen und hatte seine Ehe zu einer Hölle von Eifersucht und Kränkungen gemacht. Zerline lachte zwar darüber; er hatte sich jedoch nie in diese dummen Geschichten finden können. Der Schustermeister Herz hatte seinem Sohn einige schwerfällige Grundsätze mit auf den Weg gegeben, die diesem beständige Pein bereiteten in einer Welt, in der niemand solche Grundsätze gelten lassen wollte. Seiner Frau hatte Herr Herz längst alles verziehen, und er pflegte an sie mit sanfter Rührung zurückzudenken. »Deine Mutter«, sagte er oft zu Rosa, »war sehr schön, sehr munter und tanzte göttlich.« Es ergriff ihn, dass so muntere, göttlich tanzende Füßchen so früh unter die Erde kommen mussten. Heute aber, im Angesicht seines bleichen, schweigsamen Kindes, gedachte der alte Ballettänzer mit verbissener Wut der schönen Zerline. Trug sie nicht die Schuld, dass Rosa nicht war wie andere Mädchen? Rosa hatte nicht nur die blanken Augen und das plötzlich strahlende Lächeln von ihrer Mutter geerbt; es floss in Rosas Adern auch zuviel von dem heißen Blut der lustigen Tänzerin.
Herr Herz ging in die Küche hinaus. Er musste mit Agnes sprechen. Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Knie und drehte sinnend einen Daumen um den andern. »Sie ißt nichts – sie spricht nichts –« sagte er leise, damit Rosa es nicht höre.
»Daran ist nicht viel!« meinte Agnes. »Man muss ihr Zeit lassen. Weil alles anders gekommen ist, als sie erwartet hat, so muss sie sich daran gewöhnen.«
»Ja, was sollen wir aber tun?«
»Warten wird wohl das beste sein.«
Herr Herz sah zur Decke auf. »Ich habe schon daran gedacht, den Klappekahl um Rat zu fragen; der schien mir…« Er brach ab und dachte nach.
Agnes stäubte den Tisch mit lauten, harten Schlägen des Staubbesens ab; plötzlich warf sie das Kinn empor und sagte scharf: »Was brauchen wir fremde Leute – und noch dazu den kribbeligen Apotheker? Was kann der raten? Die Leute mögen tun, was sie wollen; wir brauchen sie nicht. Wir werden nicht zu ihnen gehen, uns Kränkungen holen. Wir drei werden schon miteinander auskommen, mein ich. Kommt ein Schuft zu einem Mädchen und sagt: ›Ich will dich heiraten‹, so glaubt ihm das Mädchen. Wir Frauenzimmer glauben so was immer; wir sind so gemacht. Nun – und wenn er das Mädchen nicht heiratet – weil er eben ein Schuft ist – so geschieht’s dem Mädchen natürlich sehr hart, aber das geht vorüber; man muss abwarten können. Meine Schwester, die Hebamme in Tiglau, hat andere Mädchengeschichten mitangesehen. Sie sagt auch, es geht vorüber; nur Zeit ist nötig, wie bei jeder Krankheit.«
Herr Herz hörte aufmerksam zu. Es war vielleicht doch das rechte, sich in seine vier Wände einzuschließen wie in eine Festung. Was konnten die Leute ihnen anhaben? Agnes schien sich über den Fall ganz klar zu sein und sprach, als sei sie ihrer Sache gewiss. Gut, sie sollte recht behalten.
»Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, meinte er, erhob sich und ging in das Wohnzimmer zurück. Das Gespräch mit Agnes hatte ihn ein wenig beruhigt. Er setzte sich auf seinen Sorgenstuhl, vielleicht konnte er schlafen.
Rosa saß noch immer am Fenster – sehr elend, aber verhältnismäßig ruhig. Die stillen, kummervollen Stunden, die seit heute morgen verflossen waren, gehörten doch nicht zu dem nichtssagend einförmigen Leben, das Rosa mit Angst kommen sah – »das Leben ganz wie früher« –, es lag über ihnen eine gewisse Feierlichkeit. Dieser Montag war kein gewöhnlicher Werktag, denn er brachte dem armen Kinde die Neuheit eines großen Schmerzes.
Nun kamen die Abendstunden – das rote Flackern auf den Wänden. Rosa kannte das nur zu gut, sie wusste ganz genau, welchen Weg diese Lichter nahmen, dass sie zuerst auf der Kommode und den Bänden der illustrierten Zeitschrift entbrannten, dann auf der Wand, endlich dort in der Ecke blasser wurden und der Dämmerung Platz machten, die, wie ein feiner Aschenregen, auf die Gegenstände niederrann. Oh, sie kannte das, und es tat ihr weh, beengte sie. Dieses sachte Dunkeln erschien ihr wie der Anfang des Zurücksinkens in ihr freudloses Dasein. Es war ihr, als würde sie fest in ein farbloses Netz verstrickt, sie hätte mit Händen und Füßen stoßen, sich sträuben