Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
wurden von Westen her über den Himmel getrieben, zwischen ihnen glomm hie und da ein grell leuchtender Stern auf. Rosa schaute sich nach Ida um. Die Straße war leer.
Sollte Rosa auf das Judenmädchen warten? Vielleicht war es spät und Ida schon fort. Eine große Angst ergriff Rosa. Sie schaute zu den Fenstern des Pfarrers auf. Dort saß die Familie um den gedeckten Tisch, und die Magd trug das Essen auf. Also schon beim Nachtmahl. Ja, es musste spät sein. Gott, zu spät vielleicht und alles war aus, Rosa musste bei den friedlichen Familien, den blauen Porzellantellern, den Schüsseln voll dampfender Erdäpfel bleiben. Sie begann zu laufen – die Straße hinab, um die Ecke in den Stadtgarten. Leute, an denen sie vorüberlief, blieben stehen und schauten ihr verwundert nach. Da war schon der Fluss, schwarz und laut rauschend – da die Brücke, dort das Lichtpünktchen musste das Fenster des Brückenkruges sein. Auf der Brücke fasste sie der Wind so heftig, dass sie sich am Geländer halten musste, sie fürchtete sich, und doch, hier wehte schon die freie, mächtige Luft, nach der sie sich sehnte, nur wünschte sie, Ambrosius wäre schon da.
Der Brückenkrug war das einzige Haus am jenseitigen Flussufer, eine ärmliche, schmutzige Kneipe. An den Pfosten vor der Türe hatte man ein Pferd gebunden, mit vorgestrecktem Kopfe, zurückgelegten Ohren stand es da und ließ den Wind in seiner Mähne wühlen. Die Haustüre stand offen, und man blickte von draußen in die Schankstube hinein. Am Tisch saß ein Mann mit breitkrempigem Hut und trank, neben ihm saß die Wirtin, die Ellenbogen beide auf den Tisch gestützt, die Augen halb geschlossen. Vor ihr brannte eine Unschlittkerze und flackerte, als wollte sie verlöschen. Auf der Türschwelle hockte eine schwarze Katze, rieb ihren Rücken an den Türpfosten und blinzelte verstimmt in die Nacht hinaus.
Rosa blieb stehen und schöpfte tief Atem. Dieses war ja doch der bezeichnete Ort? Wo war denn Ambrosius? Sie ging um das ganze Gebäude herum. Alles still. »Es hat ihn etwas abgehalten«, sagte sie sich und lehnte sich mit dem Rücken gegen den dünnen Stamm eines Ahornbaumes, der vor dem Hause stand. Die Gründe, warum Ambrosius nicht da war, stellten sich reichlich ein. Unbequem war es gewiss, aber er musste ja gleich kommen. Natürlich! Es war ganz unmöglich, dass er nicht – –; nein! Das war nicht möglich. Ganz ruhig wollte sie warten.
So stand sie da und blickte unverwandt auf das trübe Bild dort in der Wirtsstube; sie mochte an nichts denken. Aufmerksam betrachtete sie die rot und grauen Würfel auf dem Kamisol der Wirtin, lauschte gespannt dem trockenen Ton, den das Glas verursachte, wenn der Fremde es auf den Tisch zurückstellte, interessierte sich für die arg bedrängte Flamme der Kerze. »Wird sie verlöschen oder nicht? Jetzt ist sie nah daran. Nein, sie flackert wieder auf Brennt sie fort, so kommt Ambrosius.« Nun bekam dieses trübgelbe Licht für Rosa eine seltsame Wichtigkeit. Oh, sie war tapfer, die arme Flamme, aber Ambrosius kam dennoch nicht. »Er wird nicht kommen«, diesen Gedanken wagte Rosa nicht zu denken; das durfte sie nicht. Sie schloss die Augen und zählte. War sie bis Hundert gekommen, dann musste er da sein, und je näher sie dem Hundert kam, um so langsamer zählte sie: »Fünfundsiebzig – sechsundsiebzig – siebenundsiebzig.« War das nicht Wagenrollen? Nein! Sie wollte die Augen nicht eher öffnen, als bis die Hundert voll waren. »Achtundsiebzig – neunundsiebzig – achtzig« – dann wollte sie die Augen aufschlagen – er würde vor ihr stehen. »Einundachtzig.« Während sie fortzählte, glaubte sie immer wieder Schritte, Stimmen zu vernehmen, mit jeder Zahl stieg die Hoffnung, und dennoch wagte sie es nicht, die verhängnisvollen Hundert zu nennen. »Siebenundneunzig – achtundneunzig – neunundneunzig« – sie hielt inne. – »Hundert.« Sie glaubte schon Ambrosius’ Nähe zu fühlen, sah ihn vor sich stehen und lächeln. Sie schlug die Augen auf. Immer noch schlummerte die Wirtin über den Tisch gebeugt neben dem Fremden, immer noch kämpfte die Flamme mit dem Zugwinde, nur die Katze war bis zu Rosa herangeschlichen, machte einen krummen Rücken und miaute leise – sonst alles hoffnungslos unverändert und leer. Rosa preßte die Hände aneinander und betete: »Lass ihn – ach, lass ihn kommen! Lieber Gott, mir das noch!« Dann ward sie von bitterer Mutlosigkeit ergriffen, die Arme sanken schlaff herab, sie drückte sich fester gegen den Baum. Was auch geschehen mochte, sie wollte hier stehen.
»Fräulein Rosa!« erscholl es neben ihr. Sie schreckte zusammen, das war Idas Stimme. Ein warmes, ungestümes Freudengefühl erfüllte Rosa wieder. Es war töricht gewesen, so zu verzweifeln.
»Ida, bist du es? Das ist recht. Warum bliebst du so lange aus?«
»Der Herr von Tellerat schickt mich mit einem Brief«, berichtete Ida.
»Ein Brief; wozu? Ich soll wohl warten«, sagte Rosa hastig und ergriff den Zettel, den Ida unter ihrem Tuche hervorholte. Sie eilte an das Fenster der Kneipe, um bei diesem spärlichen Lichte den Brief zu lesen. Er enthielt nur wenige, mit Bleistift geschriebene Zeilen:
»Liebchen! Der verdammte Jude hat meinem Onkel alles verraten. Vorläufig ist es aus mit unseren Plänen. Morgen bringt mich der Onkel selbst zu meinen Eltern. Dein unglücklicher A–.«
Rosa hatte sogleich alles begriffen. Das war es also, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hatte; nun war es da – das Unmögliche. – Drinnen in der Wirtsstube rüstete sich der fremde Mann zum Aufbruch und zog seinen Mantel fester um die Schultern, während die Wirtin ihm die Rechnung mit Kreide auf den Tisch schrieb. Rosa schaute dem zu; sie hatte ja nichts mehr zu tun. »Ob der Mann auf dem Pferde dort fortreiten wird? Wahrscheinlich! Dann kann die Wirtin schlafen gehen, das arme gequälte Licht auslöschen.«
»Fräulein Rosa!« Ida zupfte Rosa am Mantel. »Sie müssen nach Hause gehen, sonst wird das Haustor gesperrt.«
Nach Hause! Dieses Wort traf Rosa wie eine neue Offenbarung des Elends. Freilich musste sie heimgehen, sich in ihr Bett legen – wie sonst! Sie lehnte sich an die Mauer des Hauses und schluchzte laut. Ida blickte neugierig das weinende Mädchen an; dann griff sie entschlossen nach Rosas Arm und führte sie fort. Rosa folgte ihr. Was lag daran, es war ja doch alles verloren. Vor der Herzschen Wohnung verabschiedete sich Ida. »Gute Nacht«, sagte sie und streichelte unbeholfen Rosas Arm. »Weinen Sie nicht, Fräulein Rosa. Ein anderes Mal wird es besser gehen. Hier ist Ihr Reisesack, hier die Stiege. Gute Nacht.«
In der Küche war es still geworden, die Heimchen schwiegen alle; im Wohnzimmer lag noch der Lichtstreif über der Decke; Rosas Brief lag unberührt auf dem Schreibtisch – und der nächtige Friede, die langgewohnte Luft der Räume bedruckten Rosa mit bleierner Traurigkeit. In hilflosem Jammer sank sie auf ihren Reisesack nieder, stützte den Kopf auf einen Stuhl – – es war ja doch alles vorüber!
Erstes Kapitel
Für die Familie