Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
sogleich ein verdrießliches »Ziemlich« hinzu. Die fünf Minuten waren längst verstrichen, und Lurch saß noch immer da und wartete.
Endlich kehrten Ambrosius und Rosa zurück. Rosa war ernst und zog die Stirne kraus, als wäre ihr etwas Widriges begegnet. In der Tat, sie verstand die ganze Lebenslage nicht, und sie war ihr fatal. Ambrosius sagte zwar, es sei nichts Schlechtes, was sie tun sollte. Lurch könne dabei nicht zu Schaden kommen, und es sei nur Eigensinn von ihm, dass er diese kleine Formalität nicht erfüllen mochte, obgleich alles von dieser Formalität abhing. Gut! Rosa begriff nur nicht, warum Lurch ihr gehorchen sollte. Wenn er es nicht tun wollte, was konnte sie dafür? – Er liebte sie. – Was? – Lurch liebte sie? Darüber konnte sie nur lachen. Lurch und Liebe!
Doch Ambrosius hatte sich geärgert, brachte Rosa es nicht zuwege, meinte er, dass Lurch den Wechsel unterschrieb, dann war es mit der ganzen Reise nichts. Über all diesen Widerwärtigkeiten hatte er ohnehin die Lust dazu verloren. Da gehorchte Rosa – ohne Widerrede – sofort –
Lurch blieb auf seinem Stuhl sitzen und vergaß es in seiner Aufregung, Rosa zu grüßen. Erst als sie ihm »Guten Morgen, Herr Lurch« zurief, erhob er sich ein wenig, setzte sich aber gleich wieder und klammerte sich an die Armlehnen des Sessels. Eine ungemütliche Pause entstand. Da machte sich Rosa mit einem plötzlichen Entschluss von Ambrosius’ Arm frei; da es sein musste, wollte sie ihren Auftrag ernstnehmen. Sie trat an Lurch heran und reichte ihm die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Lurch?«
»Danke, Fräulein Rosa, mir geht es gut.«
»So.« Rosa schlug die Augen nieder, stützte ihren Mittelfinger so fest auf die Tischplatte, dass er sich bog, und sagte schnell: »Sie wissen, worum ich Sie bitten wollte?«
»Nein«, erwiderte Lurch erschrocken. »Oder doch – ja. Aber…«
»Bitte, tun Sie es.«
Lurch schüttelte mit dem Kopf.
Doch bat Rosa: »Mir zuliebe. Wollen Sie?«
»Ich kann nicht, Fräulein Rosa.« Lurch hob ein von Tränen und Jammer verzerrtes Gesicht zu Rosa auf. »Ich möchte ja gern, aber ich kann nicht.«
»Wenn Sie nur wollten.« Ein Sonnenstrahl traf Rosas Augen, dass sie klar und blau wie Glas schienen; dabei zog sie die Augenbrauen empor, was ihr einen erstaunten, lustigen Ausdruck verlieh. Was war nur dem Menschen? Warum zitterte er? Warum weinte er? Was hatte sie ihm getan? Rosa legte ihre Hand leicht auf Lurchs Schulter und wiederholte: »Bitte, tun Sie’s.« Lurch machte einen runden Rücken und preßte seine bleichen Lippen aufeinander. »Was?« sagte Rosa, hinter ihr knarrte eine Türe. Ambrosius hatte das Zimmer verlassen. Er konnte es nicht länger mit ansehen, er hätte Lurch schlagen müssen. Rosa aber ließ nicht nach. Die Leiden des armen Lurch erregten ihr Mitleid, und dennoch war etwas an ihnen, was Rosa reizte, sie immer wieder zu erneuen. »Wenn Sie mich ein wenig liebhaben«, sagte sie und drückte mit der Hand auf Lurchs Schulter, um zu sehen, wie dann ein nervöses Beben durch den ganzen dürren Körper lief.
»Ich kann es nicht!« brach Lurch endlich los. »Ich habe es Herrn von Tellerat schon gesagt. Ich habe nichts davon. Was hab ich davon? Sagen Sie selbst, Fräulein Rosa. Nichts hab ich davon.« In der Not seines Herzens knöpfte er sich wieder die Weste auf.
»Was Sie davon haben?« wiederholte Rosa zögernd und ein wenig befangen. »Sie haben allerdings nichts davon. Es wäre eben nur eine Freundlichkeit von Ihnen. Ich habe nichts, ich kann Ihnen nichts geben.« Sie hob beide Hände empor und zeigte ihre Handflächen. Lurch schwieg. Traurig starrte er auf die rosigen Handflächen. Er verstand es nur zu wohl; für ihn waren diese Hände immer leer. Plötzlich verlautete des Trödlers sanfte Stimme: »Für einen Kuss tut’s Herr Lurch schon.« Rosa wandte sich schnell um und ward feuerrot. »Pfui!« sagte sie. Auch Lurch war aufgefahren. »Nein«, stotterte er, »das tut Fräulein Rosa nie.«
»Gewiss nie«, bestätigte Rosa, ergriff einen ihrer gelben Zöpfe und drückte ihn an ihren Mund, als wollte sie diesen schützen. Sie fürchtete sich. Lurch blickte sie mit feuchtgelben Augen so unmenschlich starr an, und auf seinem Gesicht brannten rote Flecken. Den küssen! Sie wollte fortlaufen, und doch zögerte sie wieder. Was wird Ambrosius sagen, wenn sie nichts ausrichtet? Die ganze Reise, die ganze schöne Zukunft ging also in die Brüche? – »Schnell, schreiben Sie«, rief sie plötzlich, noch immer dunkelrot im Gesicht, die Augen voller Tränen. Lurch verstand nicht sogleich. »Wie, Fräulein Rosa…?« – »Fräulein Rosa will«, ermunterte ihn der Trödler, »das Geschäft ist abgemacht.« Er konnte es immer noch nicht glauben, Rosa aber stampfte mit dem Fuß auf. »Ja doch – schnell« – sie wandte sich ab – oh, sie schämte sich.
Endlich hatte Lurch begriffen. Mit zitternden Fingern ergriff er die Feder und malte vorsichtig seinen Namen auf den Papierstreif, spritzte die Feder aus, legte sie auf den Tisch, wischte sich die Lippen und war bereit. »Ich habe geschrieben«, flüsterte er. Rosa fuhr zusammen, richtete sich aber gerade auf, stellte sich vor Lurch hin, bog den Kopf zurück und schloss die Augen; dabei ward sie bleich bis in die Lippen und sah aus, als schliefe sie und habe einen sehr bösen Traum. Ängstlich lächelnd stellte sich Lurch auf die Fußspitzen – reckte den Hals – blickte mit zuckenden Wimpern auf das weiße Mädchengesicht nieder – spitzte den Mund und drückte ihn behutsam auf Rosas fest zusammengekniffene Lippen. Kaum fühlte Rosa diesen heißen Mund auf dem ihren, als sie aufschrie und zurücktrat. –
Lurch stand traurig und beschämt da; er wusste nicht, wie er sich jetzt benehmen sollte – darum verbeugte er sich höflich; Rosa aber riss das Wechselblanquet vom Tisch, um sich draußen – im Hof – weinend und lachend Ambrosius in die Arme zu werfen.
Lurch stand noch eine Weile da und strich sich liebkosend über die Lippen, dann griff er nach seinem Hut und schlich durch den Laden auf die Straße hinaus.
»Was ist denn passiert?« fragte Ambrosius besorgt, aber Rosa wollte es ihm nicht sagen. Sie erklärte nur, die Demütigung sei zu groß gewesen.
»Lass es gut sein«, meinte er. »Du hast es mir zulieb getan. Jetzt können wir reisen. Was geht uns der dumme Lurch an? So weine doch nicht; wir brauchen ruhige Überlegung. Der Würfel ist gefallen, sagt schon ein alter Römer.«
»Ja, ich weiß es – Cäsar«, schluchzte Rosa, und doch lachte sie wieder.
»Siehst du es wohl«, versetzte Ambrosius heiter. Er begriff Rosas Aufregung nicht; nun er den Wechsel in der Tasche hatte, war seine Laune die allerbeste. »Komm Liebchen, beruhige dich. Wir dürfen keine Kindereien treiben«, und seine frische, unternehmende Art tat Rosa wohl. Das war wieder der lustige Stimmton, die sorglosen Augen, das hübsche süßliche Lächeln, die so verwirrend