Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
kaum einen Schritt von ihm entfernt, seine Tochter plante, nichts von dem Schmerz, der fertig neben ihm stand. Nein, überall gesperrte Türen.
Rosa blickte wieder auf die Straße nieder. Es unterhielt sie jetzt, den Leuten nachzuschauen und sich bedächtig zu sagen: »Wie die sich den Arm reichen! Wie kameradschaftlich sie tun! Was hilft’s! Sie mögen sich noch so eng aneinanderschmiegen, es bleibt doch ein jeder allein – allein – allein«, dieses Wort hing sich an jede Person; es ward zum eigensinnigen Traum, der jede Gestalt verzerrt, und mitten im hellen, munteren Tageslicht beschlich es Rosa wie Grauen. Sie wollte aber nicht einsam sein; sie fürchtete sich. Wäre doch Ambrosius da; der liebte sie, vor dem brauchte sie sich nicht zu verbergen. Wenn man geliebt wird, ist man nicht allein, nicht wahr? Das ist eben die Liebe. – Sollte sie zum Trödler hinübergehen? Nein! Das durfte sie nicht. Dann wollte sie sich wenigstens auf das Wiedersehen mit Ambrosius vorbereiten; sie freute sich darauf und sehnte es herbei. Sie mochte nicht allein sein.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch; der Brief an den Vater musste geschrieben werden. Einige Augenblicke saß Rosa vor dem Briefbogen, den Federhalter an den Lippen, und dachte nach, dann tauchte sie die Feder in die Tinte und schrieb – ruhig, in einem Zuge – den Bogen voll. Durch die halb angelehnte Türe hörte sie die tiefen Atemzüge ihres schlummernden Vaters; dennoch zitterte ihre Hand nicht im geringsten beim Niederschreiben dieser Zeilen, in denen jedes Wort ein Stich in das gute alte Herz sein musste, das jetzt – dort nebenan – so ahnungslos schlug.
»Liebster Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du dieses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hoffe, nur für kurze Zeit. Sie wollen mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Ambrosius und ich lieben uns innig, und niemand soll uns scheiden. Wenn wir unlöslich verbunden sind, kommen wir wieder und holen Dich ab, damit Du unser Glück teilst. Wenn ich daran denke, wie selig wir zusammenleben werden, möchte ich aufjauchzen. Agnes muss auch mit. Dass ich heimlich fortgehe, verzeihst Du mir, lieber – lieber Papa, es ist zu meinem Glück nötig, denn dass ich glücklich werde, das verspreche ich Dir. Viele tausend Küsse. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Deine treue Tochter Rosa. Sonntag, den 25. September.«
Rosa machte einen hübschen, sorgsamen Schnörkel unter ihren Namen, faltete das Blatt zusammen, schrieb »an Papa« darauf, steckte es in die Tasche.
Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Minuten konnte sich noch soviel Störendes ereignen. Rosa packte ihre Habe in den Reisesack, verschloss ihn und versteckte ihn unter ihrem Bett. Das Reisekleid, Hut und Mantel legte sie zurecht. Alles war bereit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie anhatte, aus und legte sich auf ihr Bett. So war es noch am leichtesten, den Abend zu erwarten. Rosa hätte jetzt vieles erleben, tun, unternehmen mögen und musste stillehalten wie ein krankes Kind. Nebenan regte sich der Vater – seufzte tief auf – begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Oh, den wollte Rosa glücklich machen – den armen Papa! – Jetzt schloss er den Kasten auf, um den schwarzen Rock hervorzuholen – jetzt bürstete er seinen Hut. Rosas Herz ward immer weicher, sie preßte ihr Gesicht in die Kissen und musste es sich immer wieder sagen, wie glücklich sie den armen Papa machen wollte.
Er kam an ihre Türe und steckte den Kopf in das Zimmer. »Schläfst du, Kind«, fragte er, »ich gehe fort.«
»Ja, ich schlafe.«
»Gut, Kind! Ich will dich nicht stören.« Er zog sich zurück.
»Adieu, Papa.«
»Adieu, adieu –« sagte Herr Herz schon im anderen Zimmer. Die Haustüre knarrte; er war fort.
Rosa stürzte an das Fenster, ihm nachzuschauen. Da ging er – fest in seinen schwarzen Rock eingeknöpft – eine schmale, kummervolle Gestalt.
Rosa musste zu Agnes gehen, um ihr zu sagen, dass sie kein Nachtmahl wolle und sich sogleich zu Bett legen werde. Sie fühlte wohl ein Bangen, das ihr Herz bedrückte, und eine tiefe Erregung, der sie nicht Raum geben wollte, schnürte ihr die Kehle zusammen, aber Reue oder Zaudern war das nicht. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit erfüllte sie jeden Punkt ihres törichten Planes.
Agnes saß am Küchentisch und las in ihrem Gesangbuche. In der Küche herrschte Sonntagsordnung. Durch das geöffnete Fenster sah man auf den leeren Hof hinaus und über die Nachbardächer hin, auf denen die roten Abendstrahlen sprühten. Agnes fuhr langsam mit dem Zeigefinger die Zeilen in ihrem Buche hinab und bewegte tonlos die Lippen. Als Rosa eintrat, blickte sie auf.
»Agnes, ich gehe schlafen. Ich mag kein Nachtmahl. Ich habe Kopfweh«, sagte Rosa hastig. Als sie das vorgebracht hatte, blieb sie doch noch am Küchentisch stehen, der tiefe Frieden hier erschütterte sie. –
»Was gibt’s denn?« fragte Agnes. »Bist du krank?«
»Nein. Es ist nichts!«
»Doch, ich bringe dich zu Bett«, beschloss Agnes und legte ein trockenes Kastanienblatt als Lesezeichen in das Gesangbuch. Rosa aber wollte davon nichts wissen: »Ich bin schon so gut wie ausgekleidet. Nur schlafen will ich«, rief sie und lief davon. – Noch eine Stunde, und dann – – –
Was war sonst eine Stunde, wenn sie zwischen einer Geschichts- und einer französischen Stunde lag! Und heute wollte sie nimmer verstreichen.
Einen kurzen Augenblick war Rosas Zimmer jäh von dem roten Licht der untergehenden Sonne erleuchtet gewesen – dieses Aufflackern ward dann zu einem mattgelben, gespenstischen Schein, der das Herz verzagt macht, wie niedergebrannte Kerzen am Schluss eines Festabends.
Im Nebenzimmer sperrte Agnes den Schrank zu, rückte die Sessel an die Wand. Die Küchentüre ward zugeworfen, ein schürfender Tritt stieg die kleine Treppe hinan, die nach oben führte – dann ward es still; Agnes war zur Ruhe gegangen.
Während die Dämmerung auf die kleinen Räume der Herzschen Wohnung niedersank, lag das stille Mädchen hastig atmend da und starrte mit weit offenen Augen auf das Stück bleichen Himmel, das vor ihr vom Fensterkreuz in gleichmäßige Tafeln zerschnitten ward. Langsam verhängte die Dunkelheit einen Gegenstand nach dem andern im Gemach, nahm Rosa Stück für Stück ihre Vergangenheit, um sie atemlos und zitternd vor Aufregung vor eine unklare, dunkle Zukunft zu stellen.
Ein Lichtstrahl blitzte auf und warf einen schmalen Goldstreif auf den Bettvorhang. Unten auf der Straße ward die Laterne angesteckt. Ein zweiter Lichtstreif glitt über die Zimmerdecke hin. Das war drüben die Lampe des Pfarrers; und nun schlug es neun Uhr, Rosa sprang auf, legte ihr Kleid an, tastete nach ihren Sachen. Es kam ihr der Gedanke: Wenn du es versäumtest? Wenn Ambrosius schon fort wäre? Sie nahm sich nicht die Zeit, den Mantel zuzuknöpfen, die Handschuhe anzuziehen, sondern stürmte fort. Leise