Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
helfen. Bei Gott! Ida hatte das Wahre getroffen, und gut gelaunt kniff Ambrosius das Mädchen in die gelbe Backe, was Ida steif und kühl entgegennahm: »Also Lurch.« Ambrosius erhob sich. »Morgen komme ich. Ich rechne auf Sie – Wulf.«
»Ergebenster Diener, junger Herr«, erwiderte der Jude, »aber nichts Bestimmtes kann ich sagen.«
»Gehen Sie, Alter, die Sache ist abgemacht. Adieu, Ida, du bist ein kluges Mädchen.«
»Empfehl mich, junger Herr.«
Vornehm mit der Hand winkend verließ Ambrosius den Trödlerladen.
Achtzehntes Kapitel
Der Trödler Wulf hatte sein möglichstes getan, um den rücksichtslosen Sonnenschein dieses Sonntagmorgens aus seinem Wohnzimmer auszuschließen. Da die roten Vorhänge nicht genügten, hatte er das gelbe Tuch seiner Frau vor das Fenster gehängt, aber durch die kleinen, von den Motten hineingestochenen Löcher sandte die Sonne doch scharfgoldene Strahlen in das Zimmer, um die sich dann gleich ganze Staubsäulen drehten. Vor dieser unerwartet im September eingetretenen Hitze vermochte sich niemand zu schützen, so war auch das niedrige Gemach des Juden ganz durchglüht. Die Scherben, Lumpen, Papiere ringsum schienen in der Wärme zu neuem Leben zu erwachen, und dem Eintretenden schlug es wie ein heißer staubiger Atem entgegen, der sich auf die Lunge legte.
Ambrosius, Lurch und der Trödler saßen um den kleinen Tisch am Fenster und schwiegen. Ein jeder blickte starr und gereizt vor sich nieder. Lurch war sehr bleich. Den Kopf neigte er auf die rechte Schulter und knöpfte seine Weste nervös auf und dann wieder zu, während Ambrosius, in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Hände in den Hosentaschen, ruhig und gleichgültig scheinen wollte, aber zwischen den Augenbrauen, um die Mundwinkel, an den Schultern selbst verriet ein leichtes Zucken die Aufregung, in der er sich befand. Wulf war verlegen, rieb sich sanft mit den Handflächen die Kniescheiben und schaute lächelnd auf den weißen Papierstreifen, der vor ihm auf dem Tisch lag.
Endlich begann Lurch zu sprechen. Ohne aufzublicken, mit missmutig verzogenem Munde, redete er wie ein zänkisch schmollendes Kind vor sich hin: »Warum soll ich das tun? Wozu brauch ich das? Hab ich denn etwas davon, wenn Sie mit Fräulein Rosa fortgehen? Warum soll ich Geld riskieren, damit andere Leut sich – sich –?« Er sprach den Schluss nicht aus, sondern schluckte ihn laut und mühsam hinunter.
»Gut, gut! Wir wissen’s schon!« meinte Ambrosius und erhob sich, um im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich tu’s eben nicht«, wiederholte Lurch, indem er verstockt mit dem Kopfe wackelte. Ambrosius blieb vor ihm stehen, zog die Augenbrauen empor und sagte mit einer Stimme, die rau ward, weil sie ruhig sein wollte: »Hab ich denn etwas gesagt? So schweigen Sie doch! Es ist gewiss nicht unterhaltend, immer dasselbe anhören zu müssen. Ich habe Sie gebeten, noch zwanzig Minuten hier zu warten, nur das. Vielleicht ist es nicht gegen Ihre Grundsätze, hier zu warten?«
»Nein«, erwiderte Lurch, »das kann ich tun. Mir ist es gleich, kann hier noch ein wenig sitzen bleiben, aber unterschreiben – nein, das nicht!«
Diese zwanzig Minuten beängstigten ihn dennoch. Was konnten sie zu bedeuten haben? Da Ambrosius ihm aber den Rücken zukehrte, schwieg er und blickte wieder sorgenvoll auf seine alte, faltige Weste nieder.
Nun war das ärgerliche Klapp-klapp von Ambrosius’ Schritten, der in seiner Aufregung besonders hart mit dem Absatz auftrat, der einzige Laut im Gemach. Ein schwüles Unbehagen lastete auf diesem fadenscheinigen Zimmer mit seiner schmutziggelben Dämmerung, auf den drei bleichen Menschen, die sich schiefe, unsichere Blicke zuwarfen. Und der weiße Papierstreif auf dem Tisch, dort neben der halbzerbrochenen Tintenflasche und dem Federhalter, den Idas spitze Zähne rundum benagt hatten – da lag er, ließ den Sonnenstrahl über sich hinzittern und wartete ruhig, mitten in all der Pein, die er seiner Umgebung bereitete.
Ambrosius schaute zuweilen zur Türe hin. Er hatte Ida zu Rosa hinübergeschickt mit dem Befehl: Rosa solle sofort kommen. Den Bitten des Mädchens würde Lurch nicht widerstehen, gewiss nicht! Dieses Mittel anzuwenden war fatal, aber da es keinen anderen Ausweg gab, so musste man ja. Nicht wahr? Was war übrigens dabei? Nur zögerte Rosa. Zehn Minuten waren bereits verstrichen. Die peinliche Lage dauerte ohnehin schon zu lange.
Mit dem dummen Lurch und dem schmutzigen Juden in diesem übelriechenden Zimmer eingesperrt zu sein, ward endlich unerträglich. Am liebsten hätte er jetzt alles aufgegeben. Eine unbändige Wut kochte in ihm auf, eine Wut, die alles hätte zerschlagen und zerstoßen mögen. Da ward die Türe aufgerissen. Eine Flut von Licht, ein warmer Wind, der Levkojendüfte mitbrachte, drangen ins Zimmer, und auf der Schwelle stand Rosa. Ambrosius’ sorgenvolle Miene heiterte sich auf. Rosa erschien ihm wie eine Erlösung, wie Luft und Licht, die in einen finstern, dumpfen Ort dringen. Noch nie glaubte er seine Geliebte so schön, so heiter und hell gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, da sie auf der Schwelle des Trödlerladens stand, die Türklinke in der Hand, den Kopf vorgebeugt, die Augen weit auf und himmelhell, den Mund ein wenig schief zu einem neugierigen Lächeln verzogen. Dazu hatte Rosa heute etwas dareingesetzt, wie ein kleines Mädchen gekleidet zu sein. Die Zöpfe hingen über den Rücken nieder. Das frisch gewaschene blaue Sommerkleid ließ die Halbstiefel und ein Stück des weißen Strumpfes sehen. Im schwarzen Ledergurt stak ein Strauß weißer Levkojen, und all diese lebensvollen, lustigen Farben brachten in die misslaunige Dämmerung des Judenzimmers etwas frohes, jugendlich reines.
»Da bist du ja!« sagte Ambrosius und ging Rosa entgegen.
»Was gibt es denn?« fragte diese.
»Wart, ich sag’s dir draußen.« Mit diesen Worten legte Ambrosius sehr freundlich seinen Arm um Rosas Taille und führte sie in den Hof hinaus.
Mit offenem Munde, ein rostiges Rot auf den spitzen Backenknochen, starrte Lurch auf die Türe. Jetzt, da sie sich hinter Rosa schloss, sprang er auf, schaute wirr um sich. »Wo ist mein Hut?« fragte er.
»Die zwanzig Minuten sind noch nicht um«, entgegnete Wulf.
»Gleichviel!« Oh, jetzt begriff er alles, und er fürchtete sich. »Meinen Hut, Wulf!«
Der Jude lächelte sein geduldiges Lächeln. »Der Hut liegt dort auf dem Stuhl, Herr Lurch, aber von den zwanzig Minuten fehlen noch fünf. Versprochen ist versprochen.«
»Ach was!« rief Lurch und griff nach seinem Hut; als er ihn aber in der Hand hielt, drehte er ihn nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. »Fünf Minuten, sagten Sie?«