Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
wohl Eile fortzukommen«, dachte sie sich und schwieg. Er aber blickte noch immer in die Nacht hinaus.
Der Tod? Lurch hatte bisher nur deshalb zuweilen an ihn gedacht, weil die Mutter auf ihn wartete. An seinen eigenen Tod hatte er nie gedacht. Nun – plötzlich – kam dieser Gedanke – wie etwas Natürliches, wie der notwendige Abschluss einer Existenz, mit der Rosa sich nicht verbinden wollte… Je glücklich gewesen zu sein, entsann sich Lurch nicht. Vielleicht samstags, wenn er betrunken war? Doch, mein Gott, auch dann!… Sonst immer nur gedrücktes, freudloses Hinkriechen über das alltägliche Tagwerk – – bis die Liebe kam und sich in diesem leeren Dasein breitmachte, es gänzlich aufsog. Zur Qual aber wurde sie, als sie greifbare Gestalt annahm, als die Hoffnung aus ihr ein unwiderstehliches Begehren machte, das an Conrad Lurch nagte, ihn peinigte, wie Zahnweh. Jetzt, da Rosa für immer verloren war, musste das Ende kommen. Nicht?
Leise ging er an den Schrank seiner Mutter und tastete, bis er das Schubfach fand, in dem die Andenken an den Vater lagen. Pfeifenköpfe, Federhalter, ein Geldbeutel, ein Rasiermesser – ja, das war’s! Lurch steckte das Messer in die Tasche seines Überrockes. Nun hätte er gehen können, dennoch setzte er sich auf einen Stuhl. Vielleicht brauchte es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf seiner Mutter, der regungslos in den Kissen lag. Ja – die alte Frau, der wird es nahegehen. Wer wird morgen den Kaffee machen? Je nun, sie wird die Magd von gegenüber rufen. Aber zurechtstellen wollte er ihr alles. Er holte die Kaffeekanne, die Spirituslampe, das Geld für den Bäcker, daneben legte er den Schlüssel seines Schreibtisches. Dort konnte sie noch ein wenig Geld finden, das reichte wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Versorgung wenden würde. Er trat an das Bett der Mutter und küsste behutsam die Spitze der Nachthaube. – Jetzt musste er wirklich gehen, es war spät. Sachte stieg er die Treppe hinab.
Draußen wehte es ihm kalt entgegen. Er war müde, schläfrig, zerschlagen, darum eilte er, um endlich Ruhe zu haben. Da war die Konditorei! Hinter zugezogenen Vorhängen tobte der Gerstensaft-Strauß. Aber Silt, Apfelbaum – sie alle erschienen Lurch wie ferne, verblichene Gestalten, die er vor langer Zeit gekannt hatte, Bürger der farblosen Welt, in der auch er lebte vor dem Kuss im Trödlerhause. Das, was er jetzt vorhatte, war, seiner Meinung nach, ganz anders vornehm als die Witze des Gerstensaft-Präsidenten.
Vor Rosas Fenster blieb Lurch stehen. Es war dunkel, aber die schwarzen Glastafeln hauchten auf ihn wieder das schwüle, hilflose Verlangen nieder. Wütend nagte er an seiner Unterlippe und drückte die Knöchel seiner Hände aneinander. Als er endlich weiterging, schluchzte er – die Hände in den Rocktaschen, das Gesicht jammervoll verzogen. Er eilte immer mehr, er lief fast den Fluss entlang, durch entlegene, enge Gassen, bis er an ein niedriges, unreinliches Haus gelangte. Aus den mit Kalk getrübten Fensterscheiben schien ihm ein mattes, milchiges Licht entgegen, und über der Türe zeigte ein Transparent in roten Buchstaben das Wort »Bad«.
Im Flur qualmte eine Petroleumlampe, auf einer Bank saß eine alte Frau und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie war nur mit einem Hemde und einem kurzen Rock bekleidet, die dürren Arme, die Beine und Füße waren nackt. Lurch musste mehrere Male sein »Wissen Sie! – Hören Sie« wiederholen, eh die Frau erwachte. Endlich fuhr sie auf – und ohne Lurch anzusehen, ergriff sie die Lampe und rannte – tap tap – mit ihren nackten Füßen über die Fliesen; da Lurch aber verlegen stehenblieb, wandte sie sich um und versetzte knarrend: »Gehen Sie ins Wartezimmer, erste Türe links.«
Im Wartezimmer saßen zwei Männer in Hemdsärmeln vor vielen Bierflaschen. Schläfrig und faul stützten sie sich auf den Tisch, zu schlaff, um nach den gefüllt vor ihnen stehenden Gläsern zu greifen.
Lurch setzte sich in eine finstere Ecke, knöpfte seinen Überrock auf, nahm den Hut ab, legte die Hände flach auf die Kniescheiben und wartete geduldig. Er war wieder ruhig geworden, und während er dasaß, beseelte ihn nur ein festes Wollen – ohne Gedanken. Einer der Männer raffte sich auf, schlug klatschend mit der Hand auf den Tisch und lallte: »Und wenn die Julie morgen nicht Ausgang hat – dann reiße ich ihr den Kopf ab – ja.«
Bedeutungslos und nichtssagend klang Lurch das Wort »morgen« in die Ohren, wie irgendeine Redensart, die unser Nachbar im Coupé seinen Bekannten zuruft. »Grüßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch morgen? Ebenso wenig wie die Julie.
Die Badefrau kam und führte Lurch auf seine Nummer, ein enges Kabinett, in dem sich eine Wanne aus Weißblech, ein Tisch, eine Kerze in einem Messingleuchter, ein Stuhl und ein Spiegel befanden. »Danke«, sagte Lurch und schloss die Türe.
Ohne zu säumen, entkleidete er sich. Jedes Kleidungsstück, das er ablegte, klopfte er mit der Hand aus, faltete es zusammen und legte es auf die Fensterbank. Als er damit zu Ende war, schärfte er das Rasiermesser an den Ziegelsteinen des Bodens und stieg dann behutsam in das Wasser. Die Wärme tat ihm wohl; er streckte seine Glieder und rieb sie sanft mit der Hand. Eine behagliche Trägheit kam über ihn; schläfrig sah er die Flamme der Kerze an, die immer krausere Strahlen bekam. Seine Gedanken schweiften unklar und verworren in die Ferne, kamen jedoch stets auf denselben Punkt zurück; »nun kommt der Tod. Gleich muss er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Wasser plätscherte. Lurch sah auf. Neben ihm lag das Messer. Er besann sich. Wie? Das war das Sterben also noch nicht gewesen? Den ganzen Weg hatte er noch zu machen. In der ungestümen Wut, mit der Schlaftrunkene alles fortzustoßen pflegen, was ihren Schlaf stört, ergriff Lurch das Messer und begann, gegen seinen dürren, bleichen Leib zu wüten.
Im Flur draußen hatte sich die Badefrau wieder auf die Bank gesetzt und schlief. Im Wartezimmer schliefen die zwei Männer vor ihren Bierflaschen, und durch die offene Haustüre schaute die kalte Reinheit der Mondnacht in den qualmigen Raum.
Fünftes Kapitel
Gegen Morgen erst hatte Agnes Rosa zu Bett gebracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind gekommen, aus dem sie erst spät am Vormittag erwachte.
Agnes, die auf diesen Augenblick gespannt gewartet hatte, ging sofort zu ihr und schlug vor, Rosa solle zu Bett bleiben, Tee trinken, ein Ei essen, sich warm zudecken. Rosa wies alles zurück, lächelte und antwortete mit klarer, ruhiger Stimme, sie wolle sich ankleiden und dann Tee trinken. Agnes möge nur so gut sein, im Wohnzimmer ein Feuer anzumachen, denn Rosa fror.
»Ja, ja«, erwiderte Agnes unsicher. »Ich meinte nur, es wäre besser, du bliebst liegen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am sichersten; da kommt mir nicht so leicht etwas nah, das mich kränken oder mir schaden könnte. Aber wie du willst.«
Es war, als habe Rosa während