Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
setz dich her zu mir und hör mir, bitte, zu. Wir wollen sehr vernünftig sprechen.«
»Gewiss, Kind«, erwiderte Herr Herz und fügte hinzu, weil er glaubte, ein Scherz erleichtere jede Situation: »Und was für ein strenges Schulmeistergesicht du machst!«
»Oh, lache nicht, Papa! Ich habe allen Grund, ernst zu sein«, meinte Rosa, und während sie ihren Tee trank, erklärte sie: »Ich wollte dich bitten, zu Fräulein Schank hinüberzugehen – recht bald – morgen schon, um sie zu fragen, ob jene – Bonnenstelle, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin bereit, gleich abzureisen, wenn es nötig ist.«
»Warum denn?« fragte Herr Herz schnell. »Ist gestern etwas passiert?«
»Nein. Oder doch. Klappekahl teilte mir einiges – über Ambrosius Tellerat mit, das regte mich auf – und hat wohl auch zu meinem Entschluss beigetragen.«
Während sie sprach, tauchte sie Brotschnitte in den Tee und aß und trank mit Heißhunger. – Herr Herz blickte Agnes scheu an. Hatte diese vielleicht all das auch vorausgesehen? Kleinlaut versetzte er dann: »Warum willst du denn fort, liebes Kind?«
»Wir haben das schon besprochen«, erwiderte Rosa, ernst aufblickend, »und am Ende geht die Stelle verloren.«
»So ganz allein willst du mich lassen?« Der alte Ballettänzer verlor seine Fassung. Das fremde, gesetzte Wesen seines Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Rosa aber rückte nahe zu ihm heran, legte ihre Hand mit einer mütterlich überlegenen Bewegung an seine Wange und tröstete ihn. »Du darfst nicht so betrübt sein und mir das Herz schwer machen. Wir wollen uns zusammennehmen. Nicht wahr?« In ihren Worten lag wieder das Liebevolle, Kameradschaftliche, das er an seiner Rosa gewohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld verdient habe – dann komme ich zurück, und wir führen ein hübsches Leben, wir drei Alten, denn dann bin ich auch schon alt.«
Herr Herz lächelte, die Augen voller Tränen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch findest.«
»Doch!« erwiderte Rosa leise. »Da, wo man hoffen darf, muss man hoffen, nicht wahr? Wenn wir denken müssten, dass alles im Leben schlimm ausgeht, dass nichts so kommt, wie wir es wünschen, nein, das wäre zu hart! Du, Agnes und ich werden sehr lustige Leute sein.«
Agnes stand an der Türe, sie wandte jedoch Vater und Tochter den Rücken zu, sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen. –
»Du gehst also morgen zu Fräulein Schank«, schloss Rosa und lehnte sich fröstelnd in die Sofaecke zurück. »Jetzt wollen wir beisammen sein ganz wie früher. Komm, Agnes – setz dich her – und du, Papa, erzähl etwas.«
Herr Herz wischte sich getröstet die Tränen aus den Augen. Gemütlichkeit vergötterte er. Wären die Leute nur gemütlich, vieles im Leben wäre leichter zu ertragen – meinte er. Er begann von Sally und Toddels zu erzählen, wie sie sich im Laden geküsst hatten, wie sie Arm in Arm auf der Straße einherstolzierten und miteinander disputierten; Sally fand ihren Bräutigam nicht »gläubig« genug und wollte ihn bekehren. – Rosa hörte schweigend zu und lachte zuweilen – sanft und matt, wie im Schlaf. Agnes, die Brille mit den großen runden Gläsern auf der Nase, saß vor dem Feuer und strickte. »Nun«, bemerkte sie zu Herrn Herz’ Bericht, »wenn die den Toddels heiraten kann, hätte sie ebensogut den Lurch nehmen können, da ist kein Unterschied.«
»Lurch!« rief der Ballettänzer. »Weißt du das denn nicht? Der ist heute morgen unten am Fluss in der verrufenen Badestube tot aufgefunden worden. Ja, ja, in der Wanne hat er gesessen und hat sich mit einem Rasiermesser die Pulsader geöffnet. Es ist toll! Die alte Lurch ist schlimm daran! Und – warum er’s getan, weiß kein Mensch.«
»Um Gottes willen! Sehn Sie doch das Kind an!« schrie Agnes auf.
Rosa hatte sich vorgebeugt und starrte ihren Vater an, das Gesicht weiß wie ein Tuch. »Rosa – ist dir schlecht?« fragte Herr Herz.
»Ja«, sagte sie, sank zurück und schloss die Augen. »Sehr schlecht!«
Das Gefühl des Ekels und der Furcht, wie sie es gestern unten am Fluss empfunden hatte, erschütterte sie wieder. Klammerte sich doch alles, was niedrig, grausam, furchtbar war, an ihr Leben. Ja, auch diese blutige Tat in der schmutzigen Badestube gehörte zu ihr. Sie sah Lurchs gelbes Gesicht von Blut befleckt – sie hörte wieder den heiseren, gequälten Ton seiner Stimme: »Die Liebe zu Ihnen frisst an mir.« Pfui! Alles, alles verschwor sich, um sie zu beflecken! Sie ging unter in den trüben, unreinen Fluten – und nirgends Rettung. Sie fuhr auf. »Geht nicht fort«, rief sie und griff angstvoll nach dem Arm ihres Vaters.
»Nein, Kind, wir sind da. Beruhige dich. Komm, leg dich zur Ruh.« Rosa ließ sich fortführen, wiederholte nur immer: »Geht nicht fort.«
Ein heftiges Fieber ergriff sie über Nacht. Dr. Holte kam und schüttelte bedenklich den Kopf, als er jedoch nach einiger Zeit wieder vorsprach, fand er das Fieber gesunken; die Patientin schlief ruhig. »Es ist vorüber«, sagte er. »Große Mattigkeit wird eintreten, und dann sind wir fertig. Eine prächtige Natur, Ihre Tochter – bester Herz; kräftig, wissen Sie. Empfehle mich.«
Dr. Holte hatte recht. Bald saß Rosa wieder im Sessel und nahm Agnes’ Pflege und Sorgfalt willig wie ein Kind entgegen. Eine große Krankheit, dachte sie, wäre ihr lieber gewesen, eine jener Krankheiten, von denen sie gelesen, die jede Erinnerung an die Vergangenheit zerstören und den Menschen wie ein reines, unbeschriebenes Blatt dem Leben wieder übergeben. Ja, wer wieder ganz von neuem anfangen könnte!
Täglich fragte Rosa ihren Vater: »Bist du bei der Schank gewesen?« – »Nein«, antwortete dieser und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein alter Kopf behält auch nichts mehr. Aber, so große Eile wird’s wohl nicht haben.«
»Doch – Papa«, meinte Rosa mit dem herben, gereizten Stimmton, den sie in letzter Zeit annahm.
Sehr schwer entschloss sich Herr Herz zu diesem Gang; eines Morgens aber machte er sich doch auf den Weg. Fräulein Schank empfing ihren alten Freund äußerst kühl und streng. Sie meinte: Damals, als noch Zeit war, wollte man nicht. Jetzt wüsste sie nicht, ob die betreffende Stelle noch frei sei. Hätte man damals auf sie gehört, so wäre manches besser geworden. »Übrigens«, sagte sie, »wissen Sie’s ja, dass ich bereit bin zu helfen, wenn ich kann; schon um Ihrer verewigten Schwester willen, der, dem Himmel sei Dank, manche herbe Erfahrung erspart geblieben ist. Ich werde also schreiben – mich erkundigen. Vor zwei Wochen ist natürlich an kein Resultat zu denken.« Sie reichte dem Ballettänzer zum Abschied ihre kalten, spitzen Finger und wiederholte: »Wenn ich nützen kann, stehe ich zu Diensten, um Ihrer Schwester willen.«
Diese halbe Stunde vor dem mitleidig sauren Gesichte der