Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Kapitel

      An ei­nem trü­ben Mor­gen – Ende Ja­nu­ar – trat Rosa ihre Rei­se nach Ti­glau an. Ag­nes soll­te sie be­glei­ten, al­les dort ein­rich­ten und wie­der zu­rück­kom­men.

      Herr Herz war an die­sem Ab­schieds­mor­gen schweig­sam und tief be­küm­mert. Er konn­te nur im­mer wie­der sein Kind sanft strei­cheln – bald das Haar – bald die Schul­ter – bald den Arm – und un­zäh­li­ge Male »Mein al­tes Kind!« sa­gen.

      Als der Wa­gen vor dem Tor hielt und Ag­nes zur Ab­fahrt mahn­te, knie­te Rosa bei ih­rem Va­ter nie­der, ihm noch ein­mal Le­be­wohl zu sa­gen. Er nahm das Ge­sicht, das ihn so lie­bend an­lä­chel­te, wie nur Rosa es konn­te, in sei­ne bei­den zit­tern­den Hän­de, hielt es und schau­te es mit feuch­ten Au­gen an: »Du weißt«, sag­te er, »du und ich, wir ge­hö­ren zu­ein­an­der.« – »Ja – Papa!« – »Na­tür­lich, mein Kind, du – und ich.« Dann küss­te er sei­ne Toch­ter auf den Schei­tel.

      Als der Wa­gen fort­roll­te, wein­te der alte Mann un­ge­stört. Es sah ihn ja nie­mand. Frei ließ er die Trä­nen an den fal­ti­gen Wan­gen nie­der­rin­nen und schluchz­te ganz laut. Mög­lich, dass ein al­ter Bür­ger der Stadt so nicht hät­te wei­nen sol­len. La­nin hät­te es nicht ge­tan, hät­te das un­wür­dig ge­nannt. Was hat­te es aber dem ar­men Bal­let­tän­zer genützt, ein wür­di­ger Bür­ger zu sein? Jetzt saß er ein­sam in sei­ner Stu­be und sehn­te sich nach sei­nem Kin­de. Da woll­te er we­nigs­tens so un­bän­dig wei­nen, wie er es zu­wei­len da­mals tat, als er noch ein un­wür­di­ger Bal­let­tän­zer war und Zer­li­ne ihn quäl­te.

      Rosa und Ag­nes muss­ten den gan­zen Tag über fah­ren und konn­ten erst mit der Dun­kel­heit in Ti­glau ein­tref­fen. Als sie durch die Stadt fuh­ren, steck­te Ag­nes den Kopf zum Wa­gen­fens­ter hin­aus und murr­te: »Aha! Da schaut die Sal­ly La­nin zum Fens­ter hin­aus. Die ist mir auch die Rech­te! Da geht der flir­ri­ge Apo­the­ker und guckt sich nach uns die Au­gen aus. Guck du nur, du Flid­der! Dich brau­chen wir nicht mehr.« Rosa moch­te nichts se­hen. Sie schloss die Au­gen und lehn­te sich in den Wa­gen zu­rück. Das Bim­bim der Pfer­deglo­cke, das Rat­tern und Schüt­teln des Wa­gens ga­ben ihr den Trost, dass sie fort­ge­tra­gen wer­de von Lan­ins, Klappe­kahl, dem Tröd­ler – fort – fort. Erst als die Stadt hin­ter ihr lag, öff­ne­te sie die Au­gen und blick­te auf das fla­che, leicht mit Schnee über­deck­te Land hin­aus, und ihr ward ums Herz wie dem Schwim­mer, dem es ge­lun­gen ist, sich durch eine schlam­mi­ge Stel­le hin­durch­zu­ar­bei­ten und der nun mit Won­ne wie­der ins kla­re Was­ser kommt. Die wei­ße Ruhe rings­um tat dem Mäd­chen wohl, er­reg­te in ihm das kind­li­che Hin­ge­zo­gen­füh­len zur Na­tur, das un­ent­wi­ckel­te See­len erst emp­fin­den, wenn sie elend sind. Rosa be­nei­de­te die Ne­bel­krä­hen, die breit­bei­nig auf den Fel­dern spa­zie­ren­gin­gen und nach­denk­lich mit den schwar­zen Köp­fen wa­ckel­ten. Sie hüpf­ten gleich­gül­tig be­ru­higt her­um, wie Kin­der im El­tern­hau­se. Wenn der Wa­gen zu nah an ih­nen vor­über­fuhr, stie­ßen sie är­ger­lich knar­ren­de Lau­te aus und flo­gen auf – fort – in den grau­en Win­ter­him­mel hin­ein, ei­nem fer­nen Wald­ran­de zu, wo sie ih­ren Platz hat­ten. »Ja, gut muss es tun, in die­ser stil­len, rei­nen Welt sei­nen Platz zu ha­ben – hier zu Hau­se zu sein!« dach­te Rosa.

      An klei­nen Land­schän­ken hielt der Wa­gen, da­mit die Pfer­de sich ver­schnauf­ten. Schmut­zi­ge Kin­der stan­den auf den Trep­pen­stu­fen, hüpf­ten von ei­nem Fuß auf den an­dern und sa­hen die Frem­den neu­gie­rig an. Durch die Hau­stü­re schlug der Rauch des Herd­feu­ers ins Freie hin­aus, und durch die Fens­ter sah man in klei­ne, dunkle Stu­ben hin­ein. – Ge­gen Abend be­gann es zu schnei­en. Aber durch das krau­se Wir­beln der Flo­cken konn­te Rosa doch auf den hel­ler wer­den­den Ho­ri­zont hin­ab­schau­en, ein zart­gold­nes Band und ein Stück durch­sich­tig wei­ßen Him­mels. Ge­gen die­se Hel­lig­keit ho­ben sich ein spit­zer Kirch­turm und die grad­li­ni­gen Mas­sen ei­ni­ger Häu­ser dun­kel ab. Lich­ter er­wach­ten dort, trü­b­ro­te Fun­ken, auf das rei­ne, blas­se Him­mels­gold ge­streut.

      »Ist das Ti­glau?« frag­te Rosa. Ag­nes fuhr aus dem Schlaf, in den sie ver­sun­ken war, auf und mein­te, frei­lich sei das Ti­glau.

      So hat­te es sich Rosa ge­wünscht, ver­lo­ren im wei­ten, däm­me­ri­gen Lan­de. Hier muss­te man Ruhe fin­den kön­nen.

      Die ers­ten Häu­ser des Markt­fle­ckens zeig­ten sich schon, ärm­li­che ein­stö­cki­ge Häu­ser. Durch die Fens­ter ohne Vor­hän­ge sah man im Schein ei­ner Pe­tro­le­um­lam­pe un­ge­kämm­te Kin­der­köp­fe – Frau­en in zer­knit­ter­ten Baum­woll­ja­cken – nack­te Säug­lin­ge auf dem Arm. An den Bret­ter­zäu­nen, die die Stra­ße ein­fass­ten, war­fen sich Bu­ben mit Schnee­bal­len, und wenn der Wa­gen an ih­nen vor­über­fuhr, ho­ben sie rote, er­fro­re­ne Ge­sich­ter zu ihm auf, lach­ten und pfif­fen ihm nach. An den meis­ten Häu­sern be­fan­den sich klei­ne Vor­gär­ten, und dort, zwi­schen den be­schnei­ten Bü­schen, stan­den Män­ner und spra­chen zu dunklen Ge­stal­ten hin­auf, die sich aus dem Fens­ter zu ih­nen nie­der­beug­ten. Die gan­ze enge Gas­se ward von fri­schem Ki­chern, von aus­ge­las­se­nem Krei­schen, von ei­nem ju­gend­lich lus­ti­gen Trei­ben be­lebt, das sich in der Däm­me­rung ge­hen­ließ.

      Vor ei­nem dunklen Hau­se mit spit­zem Gie­bel hielt der Wa­gen. Die Haus­tür stand of­fen. »Hier – hier Kind«, sag­te Ag­nes und führ­te Rosa durch den fins­tern Flur. »Ist denn nie­mand zu Hau­se? Hier muss die Türe zur Kü­che sein, das weiß ich noch. Rich­tig, da ist sie.« – Sie tra­ten in einen däm­me­ri­gen Raum. Ein star­ker Gera­ni­um- und Zwie­bel­ge­ruch und ein hef­ti­ger Zug­wind schlu­gen ih­nen ent­ge­gen. Die bei­den Fens­ter des Ge­ma­ches wa­ren ge­öff­net, und in ei­nem je­den der­sel­ben lag je­mand, den Ober­kör­per hin­aus­beu­gend; man un­ter­schied nur zwei fal­ti­ge Mäd­chen­rö­cke und vier un­ru­hi­ge Füße, die sich auf die Spit­zen stell­ten. Ein ge­dämpf­tes Spre­chen – Män­ner- und Frau­en­stim­men klan­gen her­über, zu­wei­len von ei­nem hellauf­pras­seln­den Ge­läch­ter un­ter­bro­chen.

      »Das ist doch wirk­lich!« schalt Ag­nes. »Mäd­chen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mäd­chen hör­ten nicht; Ag­nes muss­te kräf­tig an ei­nem der Rö­cke zie­hen, da erst ward es still. Zwei Ge­stal­ten rich­te­ten sich mit lei­sen Schre­ckens­ru­fen auf, und wie sie sich ge­gen den hel­len Ho­ri­zont ab­ho­ben, er­schie­nen sie Rosa selt­sam groß und breit.

      »Was macht ihr denn?« zank­te Ag­nes. »Wir ste­hen hier und ru­fen, aber nie­mand hört. Wer­det ihr nicht die Fens­ter schlie­ßen, mein Fräu­lein wird sich er­käl­ten.« Die Mäd­chen ge­horch­ten, aber große Män­ner­hän­de wur­den von au­ßen her­ein­ge­streckt und muss­ten erst zu­rück­ge­scho­ben wer­den.

      »Du – Mar­tha – bist die äl­te­re«, kom­man­dier­te Ag­nes wei­ter, »ste­cke die Ker­ze an. Ist die Tan­te nicht da­heim? Habt ihr uns heu­te gar nicht er­war­tet? Ich schrieb doch.«

      Mar­tha beug­te sich tief auf das Streich­holz nie­der, mit dem sie das Licht an­ma­ch­te, und er­wi­der­te: Doch, die Tan­te hat­te ge­war­tet. Am Nach­mit­tage aber hat­te die Bäcke­rin nach ihr ge­schickt; sie muss­te gleich wie­der da sein.

      »So – so«, mein­te Ag­nes be­sänf­tigt und half Rosa ih­ren Man­tel ab­le­gen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann ge­hen wir ins Wohn­zim­mer hin­über. Ge­fro­ren hast du – was? Kommt,


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