Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
–« Er warf seinen Hut fort und eilte zur Türe. Agnes hielt ihn jedoch mit einem kurzen »Gehen Sie besser nicht« zurück. Herr Herz blieb stehen, protestierte: »Warum nicht?« Was waren das für neue Einrichtungen. Er musste Rosa berichten, was die Schank gesagt hatte; aber während er so vor sich hinzankte, ward ihm unbehaglich zumut. Agnes sah so feierlich aus – wischte eifrig und unnahbar den Staub von der Kommode – und machte ihr ernstes Gesicht, zog den Mund auseinander, so dass an den Mundwinkeln große Falten entstanden; eine Miene, die sie nur dann aufsetzte, wenn sie Kopfweh hatte oder wenn etwas vorgefallen war.
»Was ist denn geschehen?« fragte Herr Herz plötzlich.
»Wegen der Reise«, versetzte Agnes, »brauchen Sie der Rosa nichts zu sagen. Jetzt kann sie nicht reisen.«
»Nicht?« Herr Herz stand mitten im Zimmer und machte ein sehr verwirrtes Gesicht.
»Nein«, fuhr Agnes fort, hastig die Platte der Kommode reibend: »Wir haben gedacht, sie soll nach Tiglau – – für einige Zeit – – zu meiner Schwester. Wenn auch nicht gleich – –« Sie bog den Kopf zur Seite, um zu sehen, ob die Politur nicht einen Flecken behielt.
»Nach Tiglau, sagst du?« Herr Herz verstand nicht, was vorging. »So? – Du meinst der Landluft wegen – was?« Agnes zuckte die Achseln und ordnete die Bände der illustrierten Zeitschrift. »Was? – So sprich doch –« wiederholte Herr Herz leise und dringend. Da wandte sich Agnes ihm zu und sagte langsam: »Nach Tiglau – muss sie; zu meiner Schwester – Böhk.«
»Zu deiner Schwester Böhk«, sprach er ihr sinnend nach. – »Nach Tiglau – ja – ja –« Und als er aufschaute, begegnete er den fest auf ihn gerichteten Blicken seiner alten Dienerin. Sie sahen sich schweigend an. Herr Herz errötete, um gleich wieder ganz bleich zu werden. Agnes wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie wusste es: jetzt hatte er verstanden.
Der Ballettänzer stand noch eine Weile regungslos mitten im Zimmer, dann ging er mit zitternden Beinen zum Schrank, um seinen Hut einzuschließen, wie er es stets tat. »Also nach Tiglau! So – so«, murmelte er, »je nun! – Das geht –« mechanisch, in gleichgültigem Ton hingeworfene Worte, die er selbst nicht hörte. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, steckte die Hände unter das Knie.
Als Agnes das Zimmer verlassen wollte, schaute sie sich nach ihrem Herrn um und fand, dass er seltsam verfallen und grau dasaß. »Sie sollten ein wenig an die Luft gehen«, warf sie hin. »An die Luft«, antwortete er. »Ja, das kann nichts schaden.« Agnes half ihm den Überrock anziehen, reichte ihm den Hut, während er immer halblaut wiederholte: »Ja, das kann nichts schaden!«
Im Stadtgarten kam ihm der Doktor entgegen und rief ihn an: »Hallo – Herz! Was laufen Sie denn da herum!« – »Ich mache mir Bewegung«, antwortete Herr Herz. Ja, er machte sich sehr heftig Bewegung! Den Hut im Nacken, den Überrock offen, ging er mit Fieberhast die Kieswege auf und ab. Die greisen Augenbrauen zuckten, und er sprach eifrig mit sich selbst: »Nein, das habe ich nicht erwartet – das nicht! Ich meinte, das Schlimmste sei vorüber, nun kommt so etwas! Jahr um Jahr hat man gearbeitet, um dem Kinde eine Zukunft zu verschaffen – und alles umsonst!«
Die Schande, das Elend, die er als Komödiant hinuntergewürgt hatte, sie kamen, wie eine böse Krankheit, bei seinem Kinde wieder zum Vorschein. Rosa musste es büßen, dass er – Herz – nicht von jeher ein ordentlicher Bürger gewesen war. – Zuweilen blieb er stehen, stemmte einen Arm in die Seite – versuchte sich wieder zu den leichtfertigen Ballettänzeranschauungen zu überreden: Was ist dabei? Kannte denn jemand all die Geschichten, die Zerline ausgeführt hatte? Ach, was die Leute nicht sehen…! Und dennoch – dennoch – es war schrecklich! Was sollte er Rosa sagen. Er zürnte ihr und war es doch so ungewohnt, ihr zu zürnen.
Daheim aber schmolz aller Zorn im übergroßen Mitleid dahin vor der blassen Gestalt seiner Tochter. Rosa schaute ihrem Vater mit großen, angstvollen Augen entgegen und wartete, was er sagen würde. – Er jedoch vermochte nichts zu sagen; beim ersten Wort wären die Tränen gekommen. Er küsste Rosa auf den Scheitel – streichelte sanft ihren Arm.
»Armer Papa«, sagte Rosa, ohne die Liebkosungen zu erwidern, indem sie ruhig sitzenblieb, die Hände im Schoß gefaltet.
»Lass es gut sein«, versetzte Herr Herz mit bebender Stimme.
»Habt ihr schon gegessen?«
»Nein, Agnes wartet.«
Für die Familie Herz kam jetzt eine Zeit trüben, selten unterbrochenen Schweigens. Selbst Agnes fand nichts mehr zu sagen – von Tiglau durfte nicht gesprochen werden. In den Zimmern, die von der Oktobersonne mit nüchterner Klarheit erfüllt wurden, gingen die drei bekümmerten Menschen still und in sich gekehrt nebeneinander her, und über einen jeden von ihnen kam oft ein tiefes Sinnen, das ihn auf den Fleck, auf dem er stand, die Hand an der Arbeit, die er eben verrichtete, festbannte.
Rosa empfand anfangs nur unnennbares Staunen, das war nicht möglich! An so etwas hatte sie nie gedacht. Es war zu ungeheuerlich und erregte in ihr eine unklare, ungläubige Furcht. Zwar, in den Romanen, von denen Fräulein Schank sagte, dass sie Gift für jedes junge Mädchen seien, da pflegte wohl ein armes, bleiches Weib mit einem Kinde vor dem vornehmen jungen Mann zu erscheinen, der gerade mit seiner Braut spazierengeht. Also – so etwas war’s, was ihr begegnete. Ein großes Unglück, natürlich! Sie stand aber in ihrer kindischen Unbeholfenheit davor und versuchte es sich dadurch klarzumachen, dass sie an die heimlich gelesenen Romane dachte.
Agnes hatte ihr an jenem Morgen, sehr erschrocken, sehr erregt, aber klar und bar gesagt: »Liebes Kind, mit dir steht es so und so.« Gut, es war entsetzlich! Dennoch hätte Rosa gern mehr darüber erfahren. Endlich – eines morgens – trat sie, tief errötend, zu Agnes in die Küche, schloss die Türe hinter sich und veranlasste ein langes, halblaut geführtes Gespräch, das ihr vieles klarmachte.
Wunderbar blieb es immerhin!
Stundenlang saß sie in ihrer Kammer, sah den rötlichen Zweigen der Kastanie zu, wie sie sich sachte auf dem Hintergrunde des hartblauen Himmels hin und her wiegten, und dachte nach: Also – ganz einfach – einen Menschen sollte sie zur Welt bringen, ein Wesen wie sie selbst, wie jene dort unten, deren Schritte zu ihr herauftönten; nur dass dieses Wesen ihr gehören würde – ganz ihr, nicht wahr? So gut wie ihre Stecknadeln und ihr Fingerhut? Seltsam! Und dieses Eigentum wird essen und trinken und lieben und unglücklich sein wie sie – wie Ambrosius –? Nein – schlecht und unglücklich sollte es nicht werden! Es? – Was? – Wer war das? Rosas armes Mädchenhirn stand ratlos vor den großen Fragen des Lebens. Sie schauerte in sich zusammen. Sie fürchtete sich