Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
überall! Deine Gedichte kenne ich, wie du wohl wissen musst. Ein Exemplar habe ich sofort beim Erscheinen derselben gekauft, und eins hast du mir zugesendet. O, ich kenne sie und schätze sie; aber du hast auch ein Idyll darunter, und, siehst du, das ist das einzige, was du nicht verantworten kannst: ich habe es auch meiner Frau vorgelesen und sie hat es gleichfalls schwach gefunden. Verzeih mir meine Offenheit, aber ein Mensch, der sich so sehr wie ich nach der ewigen Ruhe sehnt, der wagt es –«
»Behalte deine Kritik bei dir!« rief Herr Christoph Pechlin ärgerlich. »Gib lieber Achtung auf den Weg und reiß mir vor allem den Rockschoss nicht ab.«
Erst nach einigen Minuten setzte er begütigend hinzu:
»Na, na, es war nicht so böse gemeint. Weischt du, wir hier zu Land habe ebe G’fühl, und es tut uns immer weh, wann a Freund sich lächerlich mache will. Das Idyll ist wirklich gar nicht so schlecht; aber siehst du, von der Poesie verstehst du ebe nicht viel, und dann kommt auch viel auf den Dialekt an, mit welchem man so etwas vorträgt. Ich werde selber es deiner Frau noch einmal vortrage.«
»Ei ja, ja, das tu! Da hast du ganz recht – der Dialekt wird die Hauptsache sein; ich habe mir das schon damals gleich gedacht. Aber Guter, Bester, lass uns nicht gar auch noch über dieses in Hader geraten; bedenke doch, was wir vielleicht heute Abend noch da unten erleben.«
»Das wird sich alles finden!« sprach Pechle, stehen bleibend und eine frische Zigarre in Brand setzend. Das flammende Schwefelholz beleuchtete sein breites, gesundes Gesicht und enthüllte der Nacht eine Miene, die unzweifelhaft andeutete, dass Christoph Pechlin, wenn auch nicht allen Anfechtungen der Kritik, so doch allen vom Dorfe Hohenstaufen drohenden Anfechtungen sich mehr als gewachsen fühlte.
»Rauchst du denn nicht mehr, Ferdinand?« fragte er.
»Nein, ich danke. Das Herz ist mir auch ohne das hoch genug in die Kehle hinaufgestiegen.«
»Schön; so nimm endlich meinen Arm und lass meinen Rock los, du hast ihn mir bereits zu zwei Dritteln aus den Nähten gerissen. Da haben wir das Dorf – da sind wir – so – nur gelassen – in fünf Minuten sind wir gerettet im Lamm!«
»Gerettet und im Lamm!« wiederholte der Baron kläglich. »Im Lamm! Für mich würde ein Wolf über der Tür ein passenderes Symbolum sein.«
»O, Sechserle, es ist doch ein wahrer Jammer, dass dich Äsop nicht gekannt hat. Mir fehlt leider der Buckel, um dich poetisch und didaktisch verwerten zu können!« –
Da waren sie richtig wieder neben der grauen Kirche, durch deren Tür die alten, gewaltigen Kaiser so oft aus und ein geschritten sein sollen. Von dem alten Kreuzzügler Barbarossa behauptet es die Legende über der Pforte auch unter Nennung des Namens, und wir stehen nicht an, ihr zu glauben. Pechle und der Baron ließen die Kirche in der Finsternis links liegen.
Da waren sie wieder in der abschüssigen Dorfgasse, und es ließ sich schon am Eingange derselben nicht verkennen, dass eine bedeutende Aufregung im Orte Platz gegriffen habe und auch wohl noch im Wachsen sich befinde. Die Töne der lustigen Hochzeitsmusik im Ochsen schlugen lauter und heller an die Ohren der beiden wegmüden Vergnügungsreisenden; aber die Bewegung in Hohenstaufen hatte auch andere als bloß harmonische und melodiöse Grundursachen. Denn wenn im Ochsen die Liebe herrschte, so hatte von dem Lamm der Hass Besitz genommen; die Gegnerschaft des glücklichen Bräutigams hatte am letztgenannten Orte ihr Hauptquartier aufgeschlagen, ohne sich auf dasselbe zu beschränken.
Die Gegnerschaft des glücklichen Bräutigams lachte vom Lamm aus Hohn nach dem Ochsen hinunter, ohne sich damit zu begnügen. Von Zeit zu Zeit trafen bereits streitende Parteien und kühne Rufer und Führer im Streit aus beiden feindlichen Lagern in der Mitte des Weges zwischen den zwei Wirtshäusern zusammen; nur durch ein wahrhaft legendenhaftes Wunder hätte es denn geschehen können, dass es bei bloß gelachtem Hohne geblieben wäre.
O nein, man hielt sich bereits um diese frühe Tages- oder vielmehr Abendzeit die Fäuste unter die Nasen, und die Worte, die hin und wider gewechselt wurden, hätten jeglicher heißblütigen italienischen, von Familienfehden durchtobten Stadt und Hochsommernacht alle Ehre gemacht. Die Oberamtsaktuare zu Göppingen konnten dreist schon jetzt ihre Tintenfässer zurecht rücken und ihre Stahlfedern auf dem linken Daumennagel probieren, und Pechle – Pechle wusste Bescheid, als ob er der Hochzeitläder für den Grafen Paris, den Neffen des Fürsten Eskalus im Ochsen zu Hohenstaufen gewesen wäre.
»Du«, sprach er, den Mund zum Ohr seines Genossen neigend, »hämisches Wesen ist mir fremd, Schadenfreude ist mir verhasst; aber ein Genuss ist es zu allen Zeiten gewesen, bedrängter Weiblichkeit in Nöten und Gefahren zu Hilfe zu springen. Rippgen, ich hoffe, springen zu können, ich werde springen. Es steht jetzt so ziemlich fest im Rate des Schicksals, unsere beiden Damen erleben noch etwas in dieser Nacht. Ach, man wagt sich doch nicht ganz ungestraft in das Herz der Romantik! Sachsenknabe, Sachsenknabe, ich kenne eine Blondine, ein schlankes, ausländisches Mädchen, eine feueräugige Jungfrau, welche es sicherlich noch bereut, vorhin meinen Arm nicht genommen zu haben. Wenn du dich deiner Faust sicher fühltest, um sie im Notfall deiner Frau leihen zu können, wär’s mir lieb; aber ich werde auch allein meinen Mann stehen, und nun – was tun wir nun, sehen wir fürs erste einmal in das Lamm, oder gehen wir sofort in den Ochsen?«
»Wir müssen doch wohl in das Lamm«, seufzte der Baron. »Übrigens sehe ich bis jetzt durchaus nicht ein, was uns auch noch in den Ochsen –«
»Führen sollte!« schloss Pechle. »Richtig! Es genügt auch vollkommen, wenn einer von uns beiden jetzt hier am Ort die Wege der Vorsehung erkennt und mit Verständnis und ohne Gesperr sich auf ihnen führen lässt. Schauen wir also zuerst vorsichtig nach unsern Huldinnen. Da – siehst du, du stolperst auf der Treppe und wirst wahrscheinlich auf der Schwelle auf die Nase fallen, – ein recht nettes Omen! Ein Römer würde umkehren, sagte irgendjemand bei einer ganz ähnlichen Gelegenheit zum ersten Napoleon auf der Brücke, die dieser wagehalsige Mensch über den Riemen hatte schlagen lassen.«
Mit letzterer historischen Reminiszenz beschritt Herr Christoph Pechlin die steinernen Stufen, die zur Tür des Lamms empor führten, und der sächsische Baron folgte ihm zaghaft und nahm sich ungemein in acht, auf der Schwelle auf die Nase zu fallen.
Der Hausflur des Lamms war bereits gefüllt mit heftig bewegten Bürgern und Bürgerinnen von Hohenstaufen. In der Stube rechts von dem Flur trank und sang mehr als ein Tisch voll aufgeregter, kampfesmutiger, junger Leute. In der Stube links von der Haustür saßen dicht aneinander gedrückt, wie drei Hennen im Gewitter, die Baronin Lucie von Rippgen, Miss Christabel