Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Miss Chri­sta­bel, of­fen sein woll­te – nur aus Angst. Gänz­lich ge­bro­chen und ge­knickt sa­ßen sie alle drei vor dem de­li­ka­ten Ge­bäck, – be­täubt und ver­wirrt von dem Lärm – der Fröh­lich­keit und dem Zorn in­ner­halb und au­ßer­halb des Hau­ses. Und um ihr Elend voll zu ma­chen, so saß ih­nen ge­gen­über ein vier­schrö­ti­ger, rei­cher Bau­er mit dem in­ten­sivs­ten Be­dürf­nis, ihre in­ne­ren und äu­ße­ren Zu- und Um­stän­de sich klar zu ma­chen. Der Bie­de­re hat­te wahr­haf­tig kei­ne Ah­nung da­von, wie fürch­ter­lich der Mensch dann und wann dem Men­schen wer­den kann. Breit, be­hag­lich und ge­müt­lich hat­te er sich den drei Un­glück­li­chen ge­gen­über hin­ge­pflanzt, bei­de El­len­bo­gen auf den Tisch ge­stützt und rauch­te sie an, an­mu­tig sie un­ter­hal­tend, je­doch zu glei­cher Zeit mit zwin­gen­der Freund­lich­keit das Ver­lan­gen stel­lend, auch von ih­nen un­ter­hal­ten zu wer­den.

      Eine trü­be Lam­pe be­leuch­te­te das Vier­klee­blatt, und wo­e­ful, wo­e­ful, wo­e­ful war für die aben­teu­ern­den Da­men die Vor­stel­lung, dass die nächs­te Tür in ihre Schlaf­kam­mer füh­re und sie dem­nächst ge­zwun­gen sein wür­den, sich zu Bett zu le­gen, wäh­rend ganz Ho­hen­stau­fen rund um sie her äu­ßerst mun­ter, wach und be­wegt blei­ben wer­de.

      Auf den Ze­hen­spit­zen aber war Pechle an die Pfor­te ge­schli­chen, die auf den Haus­flur lei­te­te, und warf durch die Spal­te einen vor­sich­ti­gen, ver­gnüg­ten Blick auf die kläg­li­che Grup­pe am Tisch. Die Si­tua­ti­on war ihm klar, und die Ge­sich­ter der Da­men be­durf­ten auch gar kei­nes Kom­men­tars. Miss Chri­sta­bel und Frau Lu­cie von Ripp­gen be­reu­e­ten es, ih­ren Wa­gen nach Göp­pin­gen zu­rück­ge­schickt und die bei­den Her­ren auf der öden, kah­len Kup­pe des Burg­ber­ges in der un­heim­li­chen Nacht ein­sam zu­rück­ge­las­sen zu ha­ben. Lei­se und un­be­merkt von Chri­sta­bel und Lu­cie zog Pechle sein Haupt zu­rück, er­fass­te jetzt sei­ner­seits den Baron am Rock­schoss, zog ihn ge­gen die Trep­pe hin, die in den obe­ren Stock des Hau­ses em­por­führ­te, und flüs­ter­te:

      »Wir stei­gen so­fort auf un­sern Tanz­bo­den und es­sen grad über ih­ren Köp­fen zur Nacht. Sie ha­ben es! Sie ha­ben es! Im Not­fall sind wir au­gen­blick­lich zur Hand; aber jetzt stel­len wir uns nicht zum zwei­ten Mal vor, son­dern war­ten ru­hig ab, was die Göt­ter wei­ter über ihre Be­quem­lich­keit und Ge­müts­s­tim­mun­gen be­schlie­ßen. Du, Fer­di­nand, die Eng­län­de­rin ver­dient wahr­haf­tig, mich im­mer noch bes­ser ken­nen zu ler­nen, aber – nun fort und zwar auf den Ze­hen! Vor al­len Din­gen üb­ri­gens lass mich ein Wort mit dem Lamm­wirt we­gen un­se­rer Ver­pfle­gung re­den; es ist nicht das ers­te Mal, dass ich bei ihm über­nach­te, und wir schät­zen uns ge­gen­sei­tig.«

      Je lus­ti­ger und wil­der es im Tanz­saal des Och­sen zu­ging, de­sto stil­ler und stum­mer lag der im Lamm da; nur die Geis­ter, die Gerü­che frü­he­rer Fes­te und Ju­bel­näch­te wa­ren noch nicht aus ihm ent­wi­chen. Sie durch­schweb­ten, durch­wog­ten ge­spens­tisch den wei­ten Raum und es ent­ging dem Baron kei­nes­wegs, dass sie da wa­ren. Er nann­te sie »grau­en­haft«.

      Die Stüh­le, Bän­ke und Ti­sche, auf und an de­nen sonst das mun­te­re Völk­chen der Um­ge­gend sein Be­ha­gen nahm, wa­ren jetzt mit Kunst bis an die ver­rauch­te De­cke auf­ein­an­der ge­türmt; es war Platz vor­han­den, ei­nem Fähn­lein waib­lin­gi­scher Lan­zen­knech­te ein Stroh­bett auf­zu­schüt­ten. Der Wirt zum Lamm in Ho­hen­stau­fen je­doch be­rei­te­te sei­nem Freund, dem Dok­tor Pech­lin ein be­hag­li­che­res La­ger, als sich durch ein aus­ein­an­der­ge­brei­te­tes Bund Stroh her­rich­ten ließ, und auch der kö­nig­lich säch­si­sche As­ses­sor au­ßer Dienst fand, um sei­ne Glie­der zu stre­cken, einen Platz, der schlim­mer aus­sah, als er in Wirk­lich­keit war.

      Aber die zwei Freun­de such­ten ihre Kis­sen fürs ers­te noch nicht auf, – auch der Baron nicht, der sich doch kaum noch auf den Fü­ßen hielt. In der Mit­te der dun­kel um sie her sich deh­nen­den Wüs­te nah­men bei­de zu­vör­derst ihr Abendes­sen ein, – Pechle mit Ap­pe­tit und Hei­ter­keit, der Baron mit dem, viel­leicht auch an­de­ren Leu­ten als ihm be­kann­ten Wür­gen in der Keh­le.

      Er war nicht der ers­te in der Welt, dem eine un­kla­re und ei­gent­lich gar nicht be­grün­de­te Ge­wis­sens­angst schlim­mer zu­setz­te, als ei­nem be­hag­li­chen Bö­se­wicht alle sei­ne wohl­über­leg­ten Schand­ta­ten und Sün­den; und der auf den nächs­ten Hü­geln ge­wach­se­ne Wein be­kam dem Freund gleich­falls bes­ser, als ihm, des wei­land rö­mi­schen Rei­ches Frei- und Ban­ner­herrn Fer­di­nand von Ripp­gen aus Dres­den, dem er gar nicht zu­sag­te. –

      Wäh­rend des Es­sens horch­te der Baron fort und fort hin­un­ter nach den ei­che­nen Boh­len des Fuß­bo­dens; nach dem Es­sen leg­te sich der Ex­stift­ler mit ele­gi­schem Au­fat­men und mit der Zi­gar­re noch ei­ni­ge Au­gen­bli­cke in das ge­öff­ne­te Fens­ter, und blick­te hin­aus auf das dunkle be­weg­te Dorf, die stil­le üb­ri­ge Land­schaft und em­por zu dem nur hier und da durch einen glit­zern­den Stern ge­kenn­zeich­ne­ten Fir­ma­ment. Bald rief er auch den Rei­se­ge­nos­sen zu sich, leg­te ihm den Arm um den Na­cken, klopf­te ihn auf die Schul­ter und sprach:

       »Ebert, mich scheucht ein trüber Ge­dan­ke vom blin­ken­den Wei­ne

       Tief in die Me­lan­cho­lei!«

      »Dich auch?« rief der Baron im höchs­ten Zwei­fel und jam­mer­volls­ten Tone.

      »Nun na­tür­lich, denn es wäre doch viel ver­gnüg­li­cher, wenn die zwei Wei­ber mit uns oder wir da un­ten mit ih­nen zu Nacht ge­ges­sen hät­ten. Al­ler Ver­druss und al­les Elend in der Welt läuft auf die­ses Ab­ge­son­dert­sit­zen der für ein­an­der ge­schaf­fe­nen See­len hin­aus. Jetzt über­kommt mich und dich die große Poe­sie der Welt im ru­hi­gen Ein­schlür­fen die­ser bal­sa­mi­schen Nacht­luft und Hin­hor­chen auf den Frie­den der Erde; – so ly­risch wie jetzt hab’ ich mich lan­ge nicht ge­stimmt und auf­ge­stimmt ge­fühlt, und wen ha­ben wir, um ihm un­se­re Stim­mun­gen mit­zu­tei­len? Ich dich und du mich! Ge­nü­ge ich dir dazu, so ist mir das sehr an­ge­nehm; aber, of­fen ge­stan­den, du ge­nügst mir nicht, und wäre es mir viel lie­ber, die Eng­län­de­rin sähe hier an dei­ner Stel­le mit mir zum Fens­ter hin­aus. Du könn­test dann ja mit dei­ner Frau aus dem an­de­ren gu­cken.«

      »Das könn­te ich, und es wäre frei­lich –«

      »Was wäre es?«

      »O nichts!« seufz­te der Baron, und wir, – wir die Un­be­tei­lig­ten stel­len ge­ra­de an die­ser Stel­le die Fra­ge, was uns ei­gent­lich die hol­de Land­schaft und der stil­le Ster­nen­him­mel an­gehn? Nicht das ge­rings­te; denn un­ser Platz ist au­gen­blick­lich nicht ein­mal im ver­hält­nis­mä­ßig ru­hi­gen und fried­li­chen Lamm, son­dern im stür­misch auf­ge­reg­ten, lich­ter­glän­zen­den, mu­sik- und tanz­durch­tos­ten Och­sen. Im Och­sen ist er, und wie schwer und sau­er es uns auch dann und wann an­kom­men moch­te, un­se­re Pf­licht ha­ben wir noch stets ge­tan, und der lei­sen, erns­ten Stim­me in un­se­rem Bu­sen ha­ben wir noch zu jeg­li­cher Stun­de be­reit­wil­lig Fol­ge ge­leis­tet und wer­den stets ihr Fol­ge leis­ten.

      Im Och­sen zu Ho­hen­stau­fen, im staub­wol­ken­er­füll­ten, er­sti­ckend­hei­ßen Saa­le schlingt sich der schwä­bi­sche Wir­bel­tanz mit al­lem dazu ge­hö­ri­gen Spek­ta­kel.


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