Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
der Presdentes aus Konstantinopolis an ihnen vorbei und streift sie, zu Tisch gehend, höhnisch mit dem Saume seines römischen Patriziergewandes. Und das ist noch nicht einmal das Ärgste! Nein, an ihren Nasen vorüber werden von den kaiserlichen Hofköchen die köstlich dampfenden und duftenden Schüsseln getragen, und soweit von der höchsten Zinne des Hohenstaufen das Auge reicht über den Nibelgau in den Brenzgau, über den Albegau in den Burgau und über das Pleonungetal in den Eritgau bis hin zur Burg Zolre ist für sie, die lombardischen Herren, keine Tafel gedeckt, kein Teller gesetzt, kein Stuhl zugerückt! Versetzen wir uns nur mit der Dichterkraft des zwölften Jahrhunderts, also mit möglichster Lebendigkeit, in die Laune und Stimmung der beiden Signori, und wenden wir ihm, dem zwölften Saeculo den Rücken! In dem Moment, in welchem wir uns im neunzehnten Jahrhundert in Sicherheit wissen werden, werden wir auch vollkommen imstande sein, den Mienen und den Blicken des Barons Ferdinand von Rippgen und seines Freundes Christoph Pechle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Auch sie standen alle beide und sahen sich an, und nach einer Weile sagte Ferdinand zu seinem Christoph:
»Da stehen wir!«
Das war richtig, und Pechle erkannte die Richtigkeit der Bemerkung auch sofort an und erwiderte wiederum nach einer Pause:
»Ja, und da steigen sie nach dem Lamm hinunter. Weiß Gott, sind das zwei Lämmer!«
»Sie gehen allein! Sie lassen uns stehen! Sie sehen sich nicht einmal nach uns um!« stotterte der Baron.
»Das ischt richtig; aber – Herrgottssakrament, wo bleibt denn da die Logik? Herrgott, ischt das a Vergleich mit deine Lämmer! Was? Sind wir dazu da, uns von ihne schere zu lassen? O du, Ferdinand, wenn es deiner liebenden Gattin so sehr Bedürfnis ist, Strümpfe von deiner Wolle zu tragen, so bin ich auch noch da, und was diese Engländerin anbetrifft, so – o Gott, Ferdinand, so ischt das weiß Gott ein göttlichs G’schöpf, und sie mag mir antworten oder nicht, fürs erschte bin i noch nicht mit ihr fertig!«
Das vierzehnte Kapitel.
Die Sonne war hinter die westlichen Berge hinabgeschlüpft, auch von dem kahlen Staufengipfel hatte die Dämmerung Besitz ergriffen. Die lichten Sommertoiletten der bergab schwebenden Damen leuchteten immer mehr en miniature aus der Tiefe, dem Dorfe zu; aber sie leuchteten doch noch. Zwei Pünktchen, zwei sich stets verkleinernde Pünktchen glänzten sie am Bergeshange, und es lag nicht an ihnen, wenn die zwei Herren auf der Höhe den Gegensatz zwischen ihnen und der weiten unermesslichen Welt nicht aufs deutlichste ins Bewusstsein aufnahmen.
Wer aber macht sich das eben angedeutete Gefühl vollständig klar? Nur derjenige, welcher von der Spitze des Montblanc aus seinen Todfeind durch das Fernrohr drunten im Tale vor dem Wirtshause sitzen sah und das innigste Bedürfnis fühlte, den Lumpen tränenden Auges an das Herz zu ziehen, bis – der beschwerliche Rückmarsch vollendet war, und in demselbigen Wirtshaus im Tal der Brief begonnen wurde, der den Advokaten daheim dringend aufforderte, den Prozess gegen den eben abgereisten Halunken ja nicht aus dem Auge zu verlieren. –
Der Baron hatte den ängstlich baumelnden Nasenklemmer mit zitternder Hand von neuem auf den Nasenbug festgedrückt; der Exstiftler hatte beide Fäuste in die Hosentaschen geschoben, und beider Augen hafteten angestrengt an den zwei Pünktchen, die auf den Busen oder Herzen dieser deutschen Heldenmänner schwerer wogen, als alle Berge und Felsen in der Nahe und Ferne – Lias, Trias und Jura durcheinander – das ganze Sammelsurium mit sämtlichen Versteinerungen, wie es die schwäbische Alb dem entzückten geologischen Forscher darbietet.
»O du gütiger Himmel, was fangen wir an? Das ist jetzt doch die Hauptfrage!« stöhnte der Baron.
»Ha ja, was fange mer an? Eine Hauptfrage ist das freilich«, sagte Pechle. »Mer eine zweite Frage ist: Wie fühlen wir uns?«
»Wie fühlen wir uns?!« ächzte Ferdinand.
»Ich, wie ein Teekessel, der eben ins schönste romantisch-historische Singen kommen wollte, als er von den Kohlen abgehoben wurde!« rief Pechle. »Beim Griffel des Aristophanes, was hätte mir alles durch die Schnauze ausgehen können? Ich darf gar nicht daran denken, und mein einziger Trost ist, dass ich wenigstens meine Gedichte in der Rocktasche habe. Das meiste von Bedeutung steht drin, und neue Gesichtspunkte hätte mir vielleicht selbst die Unterhaltung mit diesem göttlichen Mädle nicht verliehen, – das tröstet mich wahrlich, Sechserle.«
»Aber mich nicht, Pechlin.«
»Ha ja, und das wäre denn wohl die dritte Frage, was du anfangen wirst?! Es ist freilich schon richtig, dass die Weiber und vorzüglich deine Frau uns mit äußerster, wenigstens anscheinend äußerster Gemütsruhe haben abfahren lassen, und wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich wie sie da unten meinen Triumph zu würdigen wissen. Wer das hilft dir freilich nicht! Na, weißt du, sie logieren im Lamm, und das Lamm kenne ich. Es ist recht gut in seiner Art, für dich und mich sogar ausgezeichnet; allein für zwei verzogene Engel aus den höchsten Sphä– wollte ich sagen höheren Ständen, lässt die Bequemlichkeit und Verpflegung doch manches zu wünschen übrig. Weißt du, jetzt lassen wir’s fürs erste dunkel werden, so dunkel als möglich; denn blamiert sind wir, das sieht fest; gründlich, nachdrücklichst, erschütternd auf den – gesetzt sind wir – und – solange ich noch meine Schande und Schamröte erblicken kann, steige ich den wonnigen Kreaturen nicht nach –«
»Ich bliebe am liebsten ganz hier oben!« seufzte der Baron leise.
»Das ist ein Gedanke! Aber nein, bei besserer Überlegung lässt sich das doch nicht durchführen. Nach Mitternacht legt sich die Aufregung und wächst die Kälte in der Natur. Ferdinand, es bleibt uns nichts anderes übrig, als dass wir es Nacht werden lassen – ägyptische Finsternis womöglich – und uns ihnen sodann nach – schleichen, ja schleichen – hinunter in das Lamm. Nachher erwarten wir das weitere und fügen uns in die Umstände.«
»Du hast gut reden, Christoph. Du hast nicht hinter deinem angetrauten Weibe herzuschleichen, und nimmst im Notfall als einfacher Tourist Quartier im Ochsen.«
»Das ist richtig; aber ist dein Weib nicht gleichfalls dann und wann hinter dir hergeschlichen, Rippgen?«
»O gewiss! Aber das ist doch ganz etwas anderes!«
An dieser Stelle seufzte auch der Exstiftler, zuckle die Achseln und schrie fast wütend:
»Jetzt wird mer alles einerlei! Und allmählich auch du, Rippgen, nimm mir’s nicht übel! Bei der dreiköpfigen Hekate, dreierlei steht uns