Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
das ältere schöne Geschlecht gedenkt mit Rührung schönerer, vergangener Tage. Es tanzt auch heute noch, das ältere schöne Geschlecht, wenn man ihm die Gelegenheit bietet. Es ziert sich nicht mehr, als es muss, wenn es aus Spaß oder Ehrfurcht aufgefordert wird, in den Reigen zu treten; aber schöner war’s doch dazumal, als man es als ein angeborenes Recht nahm, geholt, in den Wirbel gerissen und bis zum wahnsinnigsten Schwindel herumgedreht zu werden.
Lieblich war’s, schön war’s und ganz anders als im spindelbeinigen Heute!
Die dickste Bäuerin erinnert sich mit verhaltenem Atem und merklichem weitern Aufblasen und Vorschwellen ihrer Persönlichkeit jener holden, freundlichen Nächte, in welchen sie hier im Ochsen oder droben im Lamm oder gar drunten in Göppingen der Stadt unter dem Gebraus ganz anderer, kräftigerer Walzermusik von ihren gleichfalls ohrenzerschmetternd jauchzenden Tänzern bis an die Decke des Tanzbodens geworfen wurde, um wie ein Federkopfkissen wieder aufgefangen zu werden.
Aber lassen wir doch das würdige Alter und seine Gefühle; wenn wir dermaleinst anders empfinden werden, so wollen wir es der dann vorhandenen Jugend überlassen, unsere Empfindungen und Gefühle ebenfalls zu würdigen. Wir haben uns wahrlich nicht durch Drang und Stank in den Ochsen hineingearbeitet, um uns in unfruchtbare philosophische Betrachtungen zu verlieren. O Gott bewahre, gewiss nicht! Denn wenn wir von der Abgeschmacktheit und Lächerlichkeit aller philosophischen Betrachtungen nicht längst und fest überzeugt wären, so würde der Mann, der dort unter den Musikanten, zwischen dem Schultheißen und dem Küster des Ortes sitzt, uns sofort davon überzeugen.
Wer aber sitzt unter dem Musikantengerüst und zwischen dem Kantor und Schultheiß von Hohenstaufen?
Wir kennen jemand, der allem weltbewältigenden Trotz zum Trotz, einen zeternden Schrei der Überraschung ausstoßen würde, der laut kreischen würde und zwar nicht ohne Grund, wenn er, oder vielmehr sie diesen Mann an diesem Orte sitzen sehen würde.
Wer, – wer ist es, dessen Gegenwärtigkeit im Ochsen zu Hohenstaufen an diesem Abend selbst unsern, an alle möglichen und unmöglichen romantischen und unromantischen Begegnungen gewöhnten und auf dieselben eingeübten Gleichmut in einem wenn auch nicht zeternden, so doch recht hellen und durchdringenden Ruf des Erstaunens sich Luft zu machen zwingt?
Fassung! Wer könnte es anders sein als der britische Kapitän auf Urlaub, Sir Hugh Sliddery, er, der im Haupte der Münchener Bavaria der Miss Christabel Eddish einen so entsetzlichen Schrecken durch sein plötzliches Auftauchen einjagte; er, der selber so entsetzlich erschrak und, mit hastigem Gepolter sich dem Leibe der Riesin entwindend, am Sockel derselben dreimal sich überschlagend, sich aufraffte, um über die Theresienwiese nach Florenz hin davonzulaufen!
Dass dieses Wiederauftauchen des Kapitäns in einem neuen Kapitel behandelt werden muss, ist klar, und scheint uns das siebenzehnte ganz geeignet dafür zu sein. –
Das siebenzehnte Kapitel.
Bitte, wiederholen wir! Die Schutzgöttin des Bayerlandes ist unsere Zeugin, dass der Kapitän seinen Murray am Rande der Theresienwiese liegen ließ, und gleicherweise kann sie uns bezeugen, dass Miss Christabel Eddish mit spitzen Fingern und unverhohlenem Schauder das rotbraune Buch vom Boden aufhob und es mit sich in ihre Droschke nahm. Wir können auch den geweihten Sänger aufrufen, den eben dieses Buch mitten auf dem Karlsplatze auf das Zentrum seines Daseins traf; allein er würde uns wahrscheinlicherweise sein Zeugnis verweigern, jedoch nur aus keusch-innigem Widerwillen vor allem zu öffentlichen Aufsehenmachen und Hervortreten mit der eigenen Persönlichkeit; und wir vor allen anderen sind weit davon entfernt, eine solche, gegenwärtig so seltene Scheu und Schämigkeit lächerlich zu finden.
Wir halten uns einfach an das Faktum, dass Miss Christabel nach ihrem hastigen Durchblättern des englischen Reisehandbuches auf ihrem Wege nach Florenz sofort umkehrte; denn wir kehrten ja mit ihr um, und verdanken es nur diesem, dass wir uns augenblicklich mit ihr und der übrigen Gesellschaft im Dorfe Hohenstaufen befinden, nachdem wir einen so wundervollen Sonnenuntergang auf dem Burgberge genossen haben.
Aber nicht nur wir und Miss Christabel kehrten auf dem Wege nach den Lorbeer- und Myrtenländern um, nein, auch der Kapitän Sir Hugh kam nicht dahin. Am Fuße des Splügen wendete auch er sich und zwar wie weiland sein Landsmann Mr. Robinson Crusoe, als er auf der Wanderung durch seine Insel auf den Bratofen und den Tafelabhub seiner kannibalischen karaibischen Nachbarn im Stillen Ozean stieß.
Ei, nach Florenz! Die Reiseroute lag freilich in dem Reisehandbuch, jedoch Sir Hugh saß nicht ohne seine guten Gründe im Ochsen zu Hohenstaufen, allwo er wieder einmal chambers bespoken hatte, ohne vorher bei dem Schicksal angefragt zu haben, ob es ihm auch gestatten werde, dieselben zu beziehen. Es wird natürlicherweise jetzt vor allen Dingen unsere Schuldigkeit sein, darzulegen, wie er gerade hierher kam.
Der Kapitän hatte, wie gesagt, den Weg nach dem Süden über den Splügen nehmen wollen, und nach dem Zusammentreffen mit Miss Christabel, ebenso fieberhaft hastig packend wie die Miss und in womöglich noch größerer Aufregung als sie, sich auf den Weg gemacht. Im eiligsten Reiseflug hatte er Lindau im Bodensee erreicht und den Bodensee sofort überschifft, um auf die Bahn nach Chur zu gelangen. Richtig hatte er denn auch bei Au im Kanton Sankt Gallen den nächstmöglichen Zug erwischt und an der Wirtstafel des Hotels zum Lukmanier in Chur zum ersten Mal das Gefühl, widerstandslos von einer Boa constrictor verschlungen zu werden, aus dem Magen und den übrigen Körperteilen – vorzüglich jedoch aus dem Magen verloren. Infolge davon hatte er dann zum ersten Mal seit dem Zusammenstoß im Haupte der Bavaria einen fressenden Appetit verspürt, einen Appetit, wie ihn jeder, der auch einmal mit dem Gefühl, einer unaussagbaren Gefahr entgangen zu sein, zu Mittag gegessen hat, kennt und zu würdigen weiß. Dann waren Reichenau und das Domleschgertal bis Thusis traumhaft während der Stunden der Verdauung an ihm vorüber geglitten, und in Thusis hatte er zu Abend gespeist und sich sofort zu Bett begeben. Ein erhöhtes Gefühl der Sicherheit hatte ihn zwar unter die Decke begleitet, war jedoch noch längst nicht kräftig genug gewesen, ihm einen ruhigen, traumlosen Schlaf zu verschaffen. Die ganze Nacht hindurch hatte er sich mit Wesen, Dingen und Verhältnissen herumzuschlagen und zu wälzen, deren zähnefletschende, knirschende, atemaustreibende Umschlingungen in ihrer Formlosigkeit