Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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eu­ro­päi­schen Ge­füh­le wie­der, und wir müs­sen ihm die vol­le Be­rech­ti­gung zu­ge­ste­hen, auf man­chem Wege und auch auf die­sem durch das Dorf Bums­dorf den Kopf hän­gen zu las­sen.

      Er hat­te viel ge­dul­det bis zu sei­ner Be­frei­ung durch den Herrn Kor­ne­li­us van der Mook; dann war er in dem Hau­se sei­ner El­tern er­wacht und hat­te jene sel­te­ne Mi­nu­te des vol­len, si­che­ren Glückes ge­kos­tet. Aber schnell wie im­mer war die­ser Au­gen­blick vor­über­ge­gan­gen – ein Mor­gen­schlum­mer, ein son­ni­ger Tag in der Geiß­blatt­lau­be, am Abend ein Gang durch die Wie­sen und Korn­fel­der nach dem Wal­de! Schon das nächs­te Er­wa­chen brach­te wie­der das ers­te lei­se An­spü­len bit­te­rer Flu­ten, und nach acht Ta­gen war Leon­hard Ha­ge­bu­cher voll­stän­dig da­heim, das heißt, er wuss­te Be­scheid, und Be­scheid zu wis­sen ge­hört und stimmt ge­wöhn­lich nicht im ge­rings­ten zu und mit dem Glück. Wohl saß er noch in der Geiß­blatt­lau­be an der Land­stra­ße und freu­te sich der Son­ne des Va­ter­lan­des, der Stim­men und Schrit­te der al­ten El­tern, des lieb­li­chen La­chens der klei­nen hüb­schen Schwes­ter, wohl such­te und fand er in Stadt und Dorf hun­dert und aber hun­dert freund­li­che Ju­gen­derin­ne­run­gen; man kam ihm im­mer noch an den meis­ten Or­ten mit Gruß und Hand­schlag herz­lich ent­ge­gen, und es gab im­mer noch vie­le Leu­te, wel­che sei­ner Odys­see mit Herz­klop­fen lausch­ten und dank­bar für al­les wa­ren, was er in die­ser Hin­sicht zu bie­ten hat­te; aber – aber dem Un­be­ha­gen wuch­sen doch täg­lich mehr zün­geln­de, sau­gen­de Po­ly­pen­ar­me, mit wel­chen es die See­le des mü­den Wan­de­rers fes­ter und im­mer fes­ter um­schlang. Nun wuss­te die Welt be­reits, dass der Sohn des Steue­rin­spek­tors Ha­ge­bu­cher als ein ar­mer Mann aus der Frem­de heim­ge­kehrt sei, und die wun­der­vol­len Il­lu­sio­nen, wel­che sich Nip­pen­burg ge­macht hat­te, wa­ren schnell in ihr Ge­gen­teil um­ge­schla­gen, und man teil­te ein­an­der un­ter be­däch­ti­gem Kopf­schüt­teln mit, dass ein Va­ga­bond in alle Ewig­keit ein Va­ga­bond blei­ben wer­de und dass es viel­leicht um vie­les bes­ser ge­we­sen wäre, wenn die Moh­ren da­hin­ten am Äqua­tor den un­nüt­zen Men­schen bei sich be­hal­ten hät­ten. In der Kis­te, wel­che dem ar­men Leon­hard auf ei­nem Schub­kar­ren gen Bums­dorf nach­ge­fah­ren wor­den war, be­fan­den sich kei­ne Sä­cke voll Dia­man­ten und Per­len, kei­ne Schach­teln voll Gold­staub, son­dern höchs­tens ei­ni­ge afri­ka­ni­sche Merk­wür­dig­kei­ten zum An­den­ken für die nä­he­ren Freun­de und Ver­wand­ten. Herr Leon­hard Ha­ge­bu­cher konn­te aus dem In­halt die­ses Rei­se­kas­tens kei­ne Vil­la bau­en und nicht nun­mehr im Schat­ten sei­nes Par­kes, an sei­nem ei­ge­nen Her­de und in der Ge­sell­schaft ei­nes lie­ben­den Wei­bes aus den bes­sern Stän­den sei­ne Tage ver­brin­gen. Kei­ne Nip­pen­bur­ger Mut­ter hät­te ei­nem sol­chen in der Luft ste­hen­den In­di­vi­du­um ihre Toch­ter zur Ehe ge­ge­ben, und das war noch das al­ler­we­nigs­te: Leon­hard Ha­ge­bu­cher hat­te wäh­rend sei­ner Ge­fan­gen­schaft im Tu­mur­kie­lan­de so ziem­lich al­les ver­ges­sen, was dem Men­schen in un­sern zi­vi­li­sier­ten Zu­stän­den zu sei­nem Fort­kom­men ver­hilft, ja ihn nur not­dürf­tig auf der Stel­le auf­recht er­hält. Jede Wis­sen­schaft, jede Kunst, jede Tech­nik war über ihn hin­aus­ge­schrit­ten; wo sonst die ho­hen Was­ser sich um­ge­trie­ben hat­ten, da war jetzt öder Sand oder frucht­ba­res Acker­land, und wo vor­dem Sand und Wie­sen ge­we­sen wa­ren, da jag­ten sich jetzt die Wel­len. In Abu Tel­fan im Tu­mur­kie­lan­de hat­te den ar­men Ge­fan­ge­nen nichts ge­stört als die phy­si­sche rohe Ge­walt und die Sehn­sucht nach der Frei­heit, das Heim­weh nach dem Va­ter­lan­de; jetzt in der Hei­mat fing al­les an, ihn zu stö­ren und zu be­un­ru­hi­gen; er war fremd ge­wor­den in der Zi­vi­li­sa­ti­on, in Eu­ro­pa, in Deutsch­land, in Nip­pen­burg und Bums­dorf; eine un­end­li­che und in je­der Wei­se be­grün­de­te Angst vor den Din­gen und vor sich sel­ber muss­te sich sei­ner be­mäch­ti­gen – ein Schritt wei­ter, und er konn­te sich nach dem Tu­mur­kie­lan­de lei­se zu­rück­seh­nen: die Wür­de und Frei­heit, die Bil­dung und Sit­te des eu­ro­päi­schen Men­schen im­po­nier­ten ihm viel zu mäch­tig. Las­sen wir ihn üb­ri­gens jetzt vor­erst sei­nen Weg zum Dor­fe fort­set­zen, und se­hen wir der­wei­len, wer von der Freund­schaft und Ver­wandt­schaft zum großen Rat und Kaf­fee im Hau­se sei­ner El­tern an­kam oder schon an­ge­kom­men war.

      An­ge­kom­men war in ih­rer gel­ben Kut­sche die Tan­te Schnöd­ler, zu wel­cher ei­gent­lich auch ein On­kel Schnöd­ler ge­hör­te, der je­doch, da die Tan­te das Geld hat­te und er – der On­kel – die­ses we­der durch Ta­len­te, Ener­gie noch die ge­rings­te männ­li­che Grob­heit aus­glich, nicht mit­ge­rech­net wur­de. Sie, die Tan­te Schnöd­ler, die Cou­si­ne der Mut­ter Leon­hards, saß be­reits, jede Si­tua­ti­on be­herr­schend, in dem Pa­ra­de­zim­mer des Hau­ses Ha­ge­bu­cher auf dem Kana­pee und fand es, wie Lud­wig der Vier­zehn­te, sehr pro­vo­zie­rend, dass man sie so­wohl auf den Kaf­fee als auch auf den Nef­fen aus dem »Kaf­fern­lan­de« war­ten ließ.

      In Sicht auf der Land­stra­ße war der On­kel, Kauf­mann und Stadt­ver­ord­ne­te von Nip­pen­burg, der Herr Stadt­rat Ha­ge­bu­cher, ein Mann von kör­per­li­chem und geis­ti­gem Ge­wicht, der drei Töch­ter in sei­nem Ehe­stan­de er­zeugt hat­te und im Gän­se­marsch mit den­sel­ben gen Bums­dorf zog: hei­te­rer als im vo­ri­gen Jah­re, wo noch sei­ne Se­li­ge stets den Zug an­führ­te und er ihn nur be­schloss. Es ka­men zwei jün­ge­re Vet­tern, wel­che je­doch auch be­reits Haa­re auf ih­rer Be­am­ten­lauf­bahn ge­las­sen hat­ten und wel­che, ob­gleich der Staat ih­nen ih­ren Ge­halt quar­ta­li­ter mit ei­nem ge­wis­sen Hohn, mit zwei­fel­lo­ser Iro­nie aus­zahl­te, sich den ideals­ten wie den ma­te­ri­ells­ten Mäch­ten, den Schwär­me­rn für die Re­pu­blik Deutsch­land wie der reichs­ten Ban­kiers- oder Fa­bri­kan­ten­toch­ter ge­wach­sen glaub­ten. Eine sol­che wohl­ha­ben­de Fa­bri­kan­ten­toch­ter und Cou­si­ne, Fräu­lein Leo­no­re Sacker­mann, lang­te aus ent­ge­gen­ge­setz­ter Welt­ge­gend un­ter den Fit­ti­chen ih­rer einen sehr gu­ten Kar­tof­fel­spi­ri­tus pro­du­zie­ren­den El­tern vor dem Hau­se des Steue­rin­spek­tors an. Hoch zu Ross kam der We­ge­bau­in­spek­tor Was­ser­tre­ter, ein drei­und­sech­zig Jah­re al­ter, ver­ächt­li­cher Jung­ge­sell, wel­cher sich von Amts und Wet­ters we­gen dem Trun­ke er­ge­ben hat­te und es bes­ser hät­te ha­ben kön­nen, wie die Base, Fräu­lein Kle­men­ti­ne Mau­ser, die eben­falls al­lein, aber zu Fuße an­lang­te, zur un­be­hag­li­chen Zeit der Äqui­nok­ti­al­stür­me ih­rem jung­fräu­li­chen Kopf­kis­sen är­ger­lich an­ver­trau­te.

      Wer kam noch? Schlie­ßen wir die Lis­te, nach­dem wir sie kaum be­gon­nen ha­ben! Es ver­sam­mel­te sich so ziem­lich der gan­ze Vet­ter Mi­chel, und Herr Leon­hard Ha­ge­bu­cher trat in den ge­weih­ten Kreis und bot ihm, wenn nicht den be­kann­ten deut­schen »gu­ten Abend«, so doch das ara­bi­sche Se­lam alei­kum, das Heil sei mit euch, wor­auf die Tan­te Schnöd­ler er­wi­der­te:

      »Wir dan­ken dir, Herr Nef­fe, und freu­en uns, dich an­stän­dig und christ­lich in Rock, Hose und Wes­te wie­der un­ter uns zu ha­ben. Du bist einst zwar ohne Ab­schied weg­ge­gan­gen, aber hier sind wir, wie es sich ge­zie­men will, und hei­ßen dich in ver­wandt­schaft­li­cher Kom­pa­nie will­kom­men in Nip­pen­burg und sind uns ver­mu­ten, dass du nun wohl end­lich ge­nug von der Va­ga­bon­da­ge und Un­re­el­li­tät und sons­ti­gen Fan­tas­te­rei ha­ben wirst. Sag ’n Wort, Schnöd­ler.«

      »So ist es,


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