Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
sind Sie endlich doch gekommen? Weshalb kamen Sie nicht früher? O es war sehr grausam, mich so lange warten zu lassen. Sie durften am wenigsten mit mir spielen, da Sie doch auch so Schweres leiden mussten und auch keine Waffen dagegen hatten! Hat Ihnen niemand gesagt, wie die Einsiedlerin nach Ihnen verlangte? Hat Ihnen selbst Nikola nicht von mir gesprochen und Sie zu mir geschickt? O das war nicht gut, nicht gut! Aber nun danke ich Ihnen doch, denn ich habe Sie ja und gebe Sie so leicht nicht wieder frei. Sie müssen mir alles sagen, von allem erzählen – Sie dürfen das Kleinste, das Geringfügigste nicht auslassen, denn es kann mir Leben oder Tod bedeuten, was Ihnen nichts ist.«
Ratlos und bestürzt stand Leonhard unter diesem Schauer von rätselhaften Vorwürfen, Fragen und Bitten. Die Vorstellung, dass er sich einer Irrsinnigen gegenübersehe, drängte sich ihm mit aller Gewalt auf, und er wusste es dem Vetter Wassertreter wenig Dank, dass er ihn zu dieser geheimnisvollen Mühle und Frau geführt habe, um ihn sodann seinem Schicksal zu überlassen. Er sagte stammelnd und stotternd:
»Es haben mir viele Leute und auch das Fräulein von Einstein von Ihnen gesprochen, und ich würde gern früher hierhergekommen sein, wenn ich geahnt hätte, dass die Frau Klaudine meinen Besuch so gern sehen würde. Ich will auch gern noch einmal meine Historie erzählen und mit allem Vergnügen jede mögliche Auskunft geben; es lässt sich hier gut sitzen, und ich will recht oft kommen, wenn die Frau Klaudine ihre Erlaubnis gibt.«
Die Frau Klaudine schüttelte traurig das Haupt. »Ich merke, man hat Ihnen doch nicht genug von mir erzählt. Ach, halten Sie mich nicht für eine Närrin; ich bin nur eine unglückliche Mutter und frage die Leute aus nach meinem Kinde. Verzeihen Sie mir meine Aufregung, lieber Freund. Ja, ich denke, wir werden recht oft und lange zusammensitzen, und da wollen wir einander allmählich besser kennenlernen. Nun reden Sie, was hat man Ihnen von der Einsiedlerin in der Katzenmühle gesprochen?«
Leonhard Hagebucher teilte mit, was dann und wann beiläufig im Gespräch vorgekommen war, und sodann, was der Vetter Wassertreter auf dem heutigen Wege von der Geschichte der Frau Klaudine ihm kundgemacht hatte, und die Bewohnerin der Mühle hörte nun wieder still und ruhig zu und nickte nur von Zeit zu Zeit mit dem Kopfe. Als er mit seinem Bericht zu Ende war, sagte sie:
»Freilich, es kann niemand wissen, wie dem Nachbar zumute ist, sei’s, dass ihm eine Schale aus der Hand fällt und zerbricht, sei’s, dass er vor den Scherben seines ganzen Lebensglückes steht. Ich suche mein Kind – meinen Sohn, Leonhard Hagebucher; er hat mich verlassen und ist davongegangen in die weite Welt; er ist geflohen vor dem Schimpf der Leute und hat mich bewegungslos hier zurückgelassen, und ich bin eine Närrin, Leonhard Hagebucher, glaube an Wunder und wäre schon längst gestorben, wenn ich nicht an Wunder glauben dürfte. So sitze ich hier in der Katzenmühle und horche bei Tag und Nacht. Es muss einst in dem Wind eine Stimme zu mir herüberdringen, ein Stein muss anfangen zu reden, und während ich darauf harre, lasse ich keinen, der aus der weiten Welt kommt und über meine Schwelle tritt, los, ohne dass er mir Rechenschaft gab über seine Wege und alle, welche ihm auf denselben begegneten. Ich frage sie alle nach meinem Sohne; wenn ich hundert Jahre lebte und wüsste, mein Kind sei längst tot, ich würde doch fragen und fragen müssen – ich lebe nur, um mit angehaltenem Atem zu horchen; o und es ist oft sehr schrecklich, so allein zu wohnen und nichts zu hören als das Niederfallen der Tropfen dort vor dem Fenster! Ja, die Nikola, die weiß am meisten von allen Menschen davon; aber sie darf auch am wenigsten davon sprechen. Sagen Sie ihr nicht, dass ich ungehalten auf sie war, Herr Hagebucher! Ich darf keinem zürnen; das Schicksal, das über mir ist, könnte es mich entgelten lassen, und ich habe schon so lange, so traurig lange gewartet. Nur die Geduld kann mir helfen, und ich will geduldig sein; ich will nicht an dem Zeiger der Uhr rücken; die Leute, die aus der Welt kommen, sollen mir nur sagen, wie es draußen aussieht, wie die Menschen es treiben und wer ihnen begegnete. Es muss einmal jemand kommen, der meinen Sohn kennt, der ihn im Gewühl streifte und ein Wort mit ihm wechselte; ich aber will still sein hier in der alten Mühle und will mit Geduld auf ihn warten; weiß ich es doch vor Hunderttausenden nur allzu gut, wie es da draußen zugeht und wie bitter, grausam und blutig das Treiben auf den Straßen der Erde ist!«
Bewegt rief Leonhard Hagebucher:
»Liebe Frau, jetzt verstehe ich Sie ganz und hätte Ursache, eine tiefe Reue zu empfinden. Kein Mensch kann die Frau Klaudine so gut verstehen wie der, welcher sich auch zehn Jahre in der Gefangenschaft in Geduld zu fassen hatte und dem nicht einmal die Geduld, sondern nur der Stumpfsinn, das blödsinnige Hinstarren und Hinhorchen in die Leere übriggeblieben war. Ja, nun will ich auch zu der Frau Klaudine sprechen, wie zu keinem anderen, und ihr wie keinem anderen Rede stehen; denn wer könnte gleich ihr einen Sinn in diese Trostlosigkeit und bodenlose Nichtigkeit legen?!«
»Wir haben uns gegenseitig viel zu bieten und wollen einander nach Kräften helfen«, sprach die Frau aus der Katzenmühle, und dann – erzählte Hagebucher abermals seine Geschichte, diesmal jedoch in einem anderen Ton, auf eine andere Weise und der rechten Zuhörerin. An diesem ersten Tage konnte er freilich nur einen Überblick geben; schon nistete sich die Dämmerung in den tieferen Gründen des Waldes ein, und schon erglühten die höchsten Wipfel und Zweige der Bäume im rötern Lichte der untergehenden Sonne. Schon hatte Leonhard hundert Gestalten, und darunter wunderliche Gesellen, zu Land und zur See vor dem verlangenden Herzen der armen Mutter vorübergleiten lassen, aber den, welchen sie suchte, erkannte sie nicht unter ihnen. Die Dämmerung schlich von allen Seiten immer kühler und kühler aus dem Walde heran gegen die Mühle. Der moosige Fels über dem Dache erhob sich schwärzlich gegen den reinen Himmel des Sommerabends, und die erste Fledermaus verließ ihren Schlupfwinkel und prüfte ihre Schwingen, indem sie einen unsichern Kreis um den morschen Schornstein der Frau Klaudine beschrieb. Fern im Walde erhoben sich die Stimmen der Nacht, und der Spitzhund vor der Gartentür schlug leise an und schritt in dem engen Wege bis zur Tür der Mühle auf und ab, gleich einem treuen Wächter, der sich rüstet, sein Amt in der Finsternis wohl zu versehen.
Noch immer saßen Leonhard und die Frau Klaudine neben dem offenen Fenster, und keines von beiden merkte, wie das Licht und die Zeit vorübergegangen waren. Noch immer sprach Leonhard Hagebucher, der jetzt längst seine Zuhörerin in das gelbe glühende Felsental von Abu Telfan zu seiner Lehmhütte geführt hatte, und nannte jetzt auch zum ersten Male den Namen des Herrn van der Mook.
»Nun sagen Sie mir noch ein Wort von Ihrem Befreier und von der Stunde Ihrer Erlösung!« rief die Frau Klaudine. »Schildern Sie mir den Mann, welchen Ihnen die Vorsehung sandte, um Sie zu retten, und wie es Ihnen war, als die Fesseln zur Erde fielen und das Fürchterliche