Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
würde ruhig aus der Ferne abwarten, bis der Obergruppenführer seinen Rausch ausgeschlafen hatte. Dann würde er wahrscheinlich alles vergessen haben.
Aber weil Escherich eben der Escherich war, nämlich ein in seinen Sünden gesottener Kriminalist, nämlich nicht feige, sondern er war mutig, und aus dem Mut heraus sagte er (es komme, was da wolle): »Ich habe den Mann wieder auf freien Fuß gesetzt, Herr Obergruppenführer!«
Gebrüll – nein, du lieber Himmel, was für ein tierisches Gebrüll! Der doch sonst wirklich für einen höheren Führer recht gesittete Prall vergaß sich doch so weit, dass er seinen Kommissar vor der Brust fasste, ihn hin und her schüttelte und dabei schrie: »Freigelassen? Freigelassen? Weißt du, was ich nun mit dir machen werde, du Schwein? Jetzt werde ich dich einstecken, jetzt sollst du mal sitzen! Warte, eine Tausendwattlampe hänge ich dir vor deinen Schnurrbart, wie Hundekacke, und wenn du einschläfst, lasse ich dich wachprügeln, du Aas …«
So ging es noch eine ganze Weile weiter. Escherich ließ sich schütteln und beschimpfen, er hielt ganz still. Jetzt war es vielleicht doch ganz gut, dass er Alkohol getrunken hatte. Ein wenig betäubt durch den Armagnac, empfand er alles, was geschah, nur undeutlich, als sei es mehr ein Traumgeschehen.
Schrei du nur!, dachte er. Je lauter du schreist, umso eher wirst du heiser. Mach’s nur so weiter, gib’s dem alten Escherich tüchtig!
Und wirklich, nachdem er sich heiser geschrien, ließ Prall seinen Untergebenen los. Er goss sich ein weiteres Glas Armagnac ein, musterte Escherich mit bösem Blick und krächzte: »Nun melden Sie gefälligst, warum Sie diese Riesendummheit gemacht haben!«
»Zuerst möchte ich melden«, sagte Escherich leise, »dass der Mann ständig durch zwei unserer besten Leute vom Präsidium beschattet wird. Ich denke, früher oder später wird er doch seinen Auftraggeber, den Briefeschreiber, aufsuchen. Jetzt leugnet er, ihn zu kennen. Der bekannte große Unbekannte.«
»Ich hätte den Namen schon aus ihm rausgepresst. Diese Beschatterei – womöglich verlieren die noch den Mann!«
»Die nicht! Die tüchtigsten Leute vom Alex!«
»Na, na!« Aber ersichtlich zog bei Prall wieder besseres Wetter auf. »Sie wissen, ich will diese Eigenmächtigkeiten nicht haben! Ich hätte den Mann lieber in meinen Fingern!«
Das möchtest du!, dachte Escherich. Und in einer halben Stunde hast du raus, dass der gar nichts mit den Karten zu tun hat, und fängst wieder an, mich zu hetzen …
Laut aber sagte er: »Das ist so ein verängstigtes kleines Geschöpf, Herr Obergruppenführer. Die Wahrheit zu sagen: feig wie Schifferscheiße. Wenn Sie den zwiebeln, der kackt Lügen über Lügen, der sagt Ihnen alles aus, was Sie wollen, und wir laufen hinter hundert Lügen her. So führt er uns glatt zum Kartenschreiber.«
Der Obergruppenführer lachte: »Na ja, Sie oller Fuchs, also trinken wir noch einen!«
Also tranken sie noch einen.
Der Obergruppenführer sah den Kommissar prüfend an. Sichtlich hatte sein Zornesausbruch ihm gutgetan, hatte ihn etwas nüchterner gemacht.
Er überlegte, dann sagte er: »Von dem Protokoll da, Sie wissen schon …«
»Zu Befehl, Herr Obergruppenführer!«
»… von dem Protokoll da lassen Sie mir ein paar Abschriften anfertigen. Stecken Sie Ihr geistreiches Machwerk wieder ein.« Beide grinsten. »Hier gerät es womöglich doch noch in den Armagnac …«
Escherich tat das Protokoll wieder in den Aktendeckel und den Deckel in die Mappe.
Unterdes hatte sein Vorgesetzter in einer Schreibtischlade gekramt und kam jetzt zurück, eine Hand auf dem Rücken. »Sagen Sie mal, Escherich, haben Sie eigentlich schon das Kriegsverdienstkreuz?«
»Nein, Herr Obergruppenführer.«
»Irrtum, Escherich! Da haben Sie’s!« Und er streckte überraschend die bisher verborgene Hand aus, auf deren Fläche das Kreuz lag.
Der Kommissar war so überwältigt, dass er nur einzelne Worte stammeln konnte. »Aber, Herr Obergruppenführer! Nicht verdient … Finde keine Worte …«
Alles hatte er während des Anpfiffs fünf Minuten zuvor erwartet, sogar ein paar Tage und Nächte im Bunker hatte er für möglich gehalten, aber dass ihm direkt darauf das Verdienstkreuz überreicht werden würde …
»… Jedenfalls danke ich gehorsamst.«
Der Obergruppenführer Prall weidete sich an der Überraschung des Dekorierten.
»Na ja, Escherich«, sagte er dann. »Sie wissen ja, ich bin gar nicht so. Und schließlich sind Sie ja doch ein ganz tüchtiger Beamter. Man muss Sie nur manchmal ein bisschen auf den Trab bringen, sonst schlafen Sie mir noch ganz ein. Wollen noch mal einen genehmigen. Prost, Escherich, auf Ihr Kreuz!«
»Prost, Herr Obergruppenführer! Und nochmals meinen gehorsamsten Dank!«
Der Obergruppenführer fing an zu schwatzen: »Eigentlich war das Kreuz gar nicht für Sie bestimmt, Escherich. Eigentlich sollte es Ihr Kollege, der Rusch, kriegen, für eine ganz zackige Sache, die er mit einer ollen Jüdin gedreht hat. Aber Sie kamen eben eher.«
Er schwatzte noch eine Weile weiter, drehte dann das Rotlicht über seiner Tür an, was bedeutete »Wichtige Besprechung! Nicht stören!«, und legte sich zum Schlafen auf eine Couch.
Als Escherich, das Verdienstkreuz noch immer in der Hand, sein Büro betrat, saß da sein Vertreter am Apparat und rief: »Was denn? Fall Klabautermann? Ist das kein Irrtum? Hier liegt kein Fall Klabautermann vor!«
»Geben Sie her!«, sagte Escherich und fasste nach dem Hörer. »Und verdimensionieren Sie sich schleunigst!«
Er rief in den Apparat: »Ja, hier Kommissar Escherich! Was ist mit Klabautermann? Wollen wohl Meldung erstatten?«
»Melde gehorsamst, Herr Kommissar, dass wir den Mann leider aus den Augen verloren haben, nämlich …«
»Was haben Sie?«
Escherich war nahe daran, einen Zornesausbruch folgen zu lassen, wie ihn eine Viertelstunde zuvor sein Vorgesetzter gehabt hatte. Aber er bezwang sich: »Wie hat denn das geschehen können? Ich denke, Sie sind ein tüchtiger Mann, und der Observierte ist doch bloß ein Männeken!«
»Ja, das sagen Sie so, Herr Kommissar. Aber er kann laufen wie ein Wiesel, und in dem Gedränge auf dem U-Bahnhof Alexanderplatz war er plötzlich weg. Er muss gemerkt haben, dass wir ihn beschatteten.«
»Auch