Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
bist gar nicht ungeschickt!«, lobte sie ihn. »Du hast kluge Hände!«
Und einen Augenblick später: »Aber du musst besser aufpassen, Hänschen – nein, Enno, meine ich. Ich muss mich erst daran gewöhnen! Sieh mal, dies spitze glänzende Korn, das ist Hirse, und das stumpfe, schwarze, runde, das ist Raps. Das darfst du nicht durcheinanderbringen. Die Sonnenblumenkerne nimmst du am besten vorher mit den Fingern heraus, das geht schneller als mit der Feder. Warte, ich hole dir noch Schalen, in die du das fertig Sortierte tun kannst!«
Sie war ganz Eifer, ihn für seine langweiligen Tage mit Arbeit zu versorgen. Dann ging die Ladenklingel zum ersten Mal, und von nun an riss es nicht ab mit Kunden, sie konnte ihn immer nur für einen Augenblick besuchen. Dann traf sie ihn träumend vor seinem Zahlbrett mit den Sämereien. Oder noch schlimmer war es, wenn er sich eilig, vom Geräusch der Tür erschreckt, an seinen Arbeitsplatz schlich wie ein Kind, das beim Faulsein ertappt ist.
Sie sah bald, nie würde er ihren Rekord von fünf Pfund schlagen, er würde es nicht einmal auf zwei Pfund bringen. Und die würde sie auch noch einmal durchsehen müssen, so liederlich hatte er gearbeitet.
Sie war ein bisschen enttäuscht, aber sie gab ihm recht, als er sagte: »Nicht ganz zufrieden, Hete, was?« Er lachte verlegen. »Aber, weißt du, das ist keine richtige Arbeit für einen Mann. Gib mir ’ne richtige Arbeit für einen Mann, und du sollst mal sehen, wie ich loshaue!«
Natürlich hatte er recht, und am nächsten Tag setzte sie ihm das Brett mit den Sämereien nicht mehr hin. »Du musst eben sehen, wie du den Tag hinbringst, du Armer!«, sagte sie tröstend. »Es muss schrecklich für dich sein. Aber vielleicht liest du ein bisschen? Ich habe dort im Schrank noch viele Bücher von meinem Mann. Warte, ich schließe dir gleich auf.«
Er stand hinter ihr, als sie die Reihen musterte. »Es sind freilich fast alles marxistische Bücher. Du weißt ja, er war Funktionär in der KPD.1 Da, den Lenin habe ich noch grade bei einer Haussuchung gerettet. Ich hatte ihn ins Ofenloch gesteckt, und grade wollte ein SA-Mann die Ofentür aufmachen, da gab ich ihm rasch eine Zigarette, und er vergaß es.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Aber das sind wohl keine Bücher für dich, Lieber, was? Ich muss dir gestehen, ich habe auch kaum hineingesehen, seit mein Mann tot ist. Vielleicht ist das falsch, jeder müsste sich um Politik kümmern. Hätten wir das alle rechtzeitig getan, so wäre es nicht gekommen, wie es jetzt durch die Nazis geworden ist, das hat Walter immer gesagt. Aber ich bin nur eine Frau …«
Sie brach ab, sie merkte, er hatte gar nicht hingehört.
»Aber da unten stehen noch ein paar Romane von mir.«
»Am liebsten hätte ich einen richtigen Detektivroman, so was mit Verbrechern und Mord«, erklärte Enno.
»Ich glaube, so was ist nicht da. Aber hier habe ich ein wirklich schönes Buch, das habe ich immer wieder gelesen. Raabe: Chronik der Sperlingsgasse. Das versuch mal, das wird dich freuen …«
Aber sie sah, wenn sie in die Stube kam, er las nicht darin. Es lag aufgeschlagen auf dem Tisch, später war es beiseitegeschoben. »Es gefällt dir nicht?«
»Ach, weißt du, ich weiß nicht … Das sind alles so schrecklich gute Menschen, so was ist doch langweilig. So ein richtig frommes Buch ist das. Kein Buch für einen Mann. Wir wollen mehr was Aufregendes, verstehst du …«
»Schade«, sagte sie. »Schade.« Und sie stellte das Buch in den Schrank zurück.
Es irritierte sie, wenn sie jetzt in die Stube kam, den Mann dasitzen zu sehen, immer in der gleichen schlaffen Haltung, vor sich hin dösend. Oder er schlief auch, den Kopf auf den Tisch gelegt. Oder er stand am Fenster und starrte auf den Hof, immer die gleiche Melodie vor sich hin pfeifend. Es irritierte sie sehr. Sie war immer eine tätige Frau gewesen, sie war es noch, ein Leben ohne Arbeit wäre ihr sinnlos erschienen. Am liebsten hatte sie es, wenn der ganze Laden voller Kunden stand, und sie hätte sich am liebsten in zehn Stücke zerteilt.
Und da stand nun dieser Mann, stand, saß, hockte, lag zehn Stunden, zwölf Stunden, vierzehn Stunden und tat nichts, rein gar nichts! Er stahl dem lieben Herrgott den Tag! Was fehlte ihm denn? Er schlief genug, er aß mit Appetit, es ging ihm nichts ab, aber er arbeitete nicht! Einmal riss ihr die Geduld, und sie sagte gereizt: »Wenn du nur nicht immer dieselbe Melodie pfeifen wolltest, Enno! Seit sechs, acht Stunden pfeifst du schon: Kleine Mädchen müssen schlafen gehn …«
Er lachte verlegen. »Stört dich meine Pfeife? Na, ich kann auch anders. Soll ich dir mal das Horst-Wessel-Lied pfeifen?« Und er fing an: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen. SA marschiert mit mutig festem Schritt …
Ohne ein Wort ging sie in den Laden zurück. Diesmal hatte er sie nicht nur irritiert, diesmal war sie ernstlich verletzt.
Aber das verging wieder. Sie war nicht nachtragend, und außerdem hatte auch er gemerkt, dass er etwas falsch gemacht hatte, und hatte ihr als Überraschung eine neue Lampe über dem Bett zurechtgebastelt. Ja, so was konnte er auch; wenn er wollte, war er geschickt genug, aber meist wollte er nicht.
Übrigens gingen diese Tage seiner Verbannung in die Stube rasch vorüber. Frau Hete hatte sich bald davon überzeugt, dass wirklich kein Spitzel um das Haus herumstrich, und Enno konnte wieder im Laden helfen. Auf die Straße freilich durfte er vorläufig überhaupt nicht, immer konnte ihn ein Bekannter sehen. Aber im Laden helfen, das konnte er, und da erwies er sich nun wieder recht nützlich und geschickt. Sie sah bald, dass ihn eine längere Zeit gleichförmig hintereinander ausgeführte Arbeit rasch ermüdete, so gab sie ihm jetzt dies, dann das zu tun.
Bald ließ sie ihn auch bei der Kundenbedienung helfen. Er wurde gut mit der Kundschaft fertig, er war höflich, schlagfertig, manchmal sogar auf eine etwas schlafmützige Art witzig.
»Mit dem Herrn haben Sie aber einen guten Griff getan, Frau Häberle«, sagten alte Kunden. »Wohl was Verwandtes?«
»Ja, ein Vetter von mir«, log Frau Hete und war glücklich über dies Enno gespendete Lob.
Eines Tages sagte sie zu ihm: »Enno, ich möchte eigentlich heute nach Dahlem fahren. Du weißt doch, die Tierhandlung von Löbe dort macht zu, weil er zur Wehrmacht muss. Ich kann seine Bestände kaufen. Er hat sehr viel zu liegen, es würde eine große Hilfe für uns sein, wo die Ware doch immer knapper wird. Glaubst du, dass du allein mit dem Laden fertig wirst?«
»Aber selbstredend, Hete, selbstredend! So was erledige ich doch spielend. Wie lange willst du denn fortbleiben?«
»Na, ich würde gleich nach dem Mittagessen fahren, aber ich glaube nicht, dass ich bis Ladenschluss zurück sein werde. Ich möchte dann auch gleich bei meiner Schneiderin rangehen …«
»Tu das, Hete. Von mir aus hast du Urlaub bis Mitternacht. Um den Laden hier mach dir keine Sorgen, den erledige ich dir prima.«