Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
irgendwo sein muss. Nur wo, weiß sie nicht. Das Lokal ist sehr weitab von hier, auf dem Wedding. Und ein Bekannter war nicht dort, der mich verpfeifen könnte!«
Er redet ganz eifrig und gutherzig; wenn man auf ihn hört, ist er vollkommen in seinem Recht. Er versteht gar nicht, wie sehr er ihr Vertrauen enttäuscht hat, was für einen Kampf sie seinetwegen mit sich kämpft. Geld genommen – um ihr eine Freude zu machen. Das Geschäft geschlossen – hätte sie ja auch getan. In ein Lokal gegangen – war ja weit weg am Wedding. Dass sie sich aber um ihre Liebe geängstigt hatte, davon verstand er gar nichts, das ging nicht in seinen Schädel hinein!
»Also, Enno«, fragt sie, »das ist alles, was du dazu zu sagen hast? Oder?«
»Ja, was soll ich denn noch sagen, Hete? Ich seh ja, du bist mächtig unzufrieden mit mir, aber ich finde wirklich nicht, dass ich so viel falsch gemacht habe!« Nun kamen sie doch, die gefürchteten Tränen. »Ach, Hete, sei doch bloß wieder gut zu mir! Ich will dich auch gewiss vorher nach allem fragen! Sei bloß wieder lieb zu mir. So halte ich es nicht aus …«
Aber diesmal verfingen weder Tränen noch Bitten. Etwas klang falsch darin. Es ekelte sie beinahe vor dem weinenden Manne.
»Das muss ich mir alles erst gut überlegen, Enno«, sagte sie voll Abwehr. »Du scheinst gar nicht zu verstehen, wie schwer du mein Vertrauen enttäuscht hast.«
Und sie ging an ihm vorbei in die Küche, die Kartoffeln weiter zu braten. Da hatte sie also diese Aussprache gehabt. Und was hatte sie gebracht? Hatte sie Erleichterung gebracht, die Verhältnisse geklärt, eine Entscheidung erleichtert?
Nichts von alledem! Sie hatte ihr nur gezeigt, dass dieser Mann gar kein Gefühl dafür hatte, wenn er schuldig geworden war. Dass er besinnungslos log, wenn die Lage das zu erfordern schien, wobei es ihm gar nicht darauf ankam, wen er anlog.
Nein, solch ein Mann war nicht der richtige Mann für sie. Sie musste mit ihm zum Schluss kommen. Freilich, eines war klar, heute Abend konnte sie ihn nicht mehr auf die Straße setzen. Er wusste ja gar nicht, was er verbrochen hatte. Er war wie ein junger Hund, der ein Paar Schuhe zerbissen hat und keine Ahnung besitzt, warum sein Herr ihn eigentlich verprügelt.
Nein, ein oder zwei Tage musste sie ihm schon Zeit lassen, ein neues Quartier zu suchen. Wenn er dabei der Gestapo in die Hände fällt – sie muss es darauf ankommen lassen. Er lässt es ja auch darauf ankommen – wegen einer Rennwette! Nein, sie muss sich von ihm freimachen, sie kann nie wieder Vertrauen zu ihm finden. Allein muss sie für sich leben, von nun an bis zu ihrem Tode! Und bei diesem Gedanken wird ihr angst.
Aber trotz dieser Angst sagt sie nach dem Abendessen zu ihm: »Ich habe mir alles überlegt, Enno, wir müssen uns trennen. Du bist ein netter Mann, du bist auch ein lieber Mann, aber du siehst die Welt zu sehr mit anderen Augen an, auf die Dauer könnten wir uns nicht vertragen.«
Er blickt starr auf sie, die wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihm das Bett auf dem Sofa richtet. Er will erst seinen Ohren nicht trauen, und dann wimmert er los: »O Gott, Hete, das kannst du doch nicht wirklich meinen! Wo wir beide uns doch so liebhaben! Das kannst du doch nicht wollen, mich auf die Straße und der Gestapo in die Arme zu jagen!«
»Ach!«, sagt sie und will sich durch die eigenen Worte beruhigen. »Das mit der Gestapo wird auch nur halb so schlimm sein, sonst wärest du heute nicht den halben Tag in der Stadt herumgelaufen!«
Aber er bricht in die Knie. Wahrhaftig, er rutscht auf den Knien zu ihr hin. Die Furcht hat ihn ganz besinnungslos gemacht. »Hete! Hete!«, schreit und schluchzt er. »Du willst mich doch nicht töten? Du musst mich hierbehalten! Wo soll ich denn hin? Ach, Hete, hab mich doch ein bisschen lieb, ich bin ja so unglücklich …«
Heulen und Geschrei, ein kleiner, vor Angst winselnder Hund!
Er will ihre Beine umklammern, er fasst nach ihren Händen. Sie flieht vor ihm in ihr Schlafzimmer, sie riegelt sich ein. Aber die ganze Nacht hört sie ihn immer wieder gegen die Tür stoßen, die Klinke probieren, wimmern und betteln …
Sie liegt ganz still. Sie sammelt in sich alle Kraft, nicht nachzugeben, sich nicht weich machen zu lassen von ihrem eigenen Herzen und dem Gebettel da draußen! Sie bleibt fest bei ihrem Entschluss, nicht weiter mit ihm zusammenzuleben.
Beim Frühstück sitzen sie einander mit bleichen, übernächtigten Gesichtern gegenüber. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie tun, als ob die Auseinandersetzung nie gewesen wäre.
Aber er weiß jetzt Bescheid, denkt sie, und wenn er sich heute kein Zimmer sucht, morgen Abend muss er mir doch aus dem Haus. Morgen Mittag sage ich es ihm noch einmal. Wir müssen uns trennen!
O ja, Frau Hete Häberle ist eine ebenso mutige wie anständige Frau. Und dass sie ihren Entschluss dann doch nicht durchführt, dass sie den Enno doch nicht von sich stößt, das liegt nicht an ihr, das liegt an Menschen, die sie noch gar nicht kennt. Zum Beispiel an dem Kommissar Escherich und dem Herrn Barkhausen.
1 Die Kommunistische Partei Deutschlands entstand am Jahresende 1918 aus einem Zusammenschluss des Spartakusbundes mit kleineren linksradikalen Gruppen. <<<
28. Emil Barkhausen macht sich nützlich
Während Enno Kluge und Frau Häberle sich zu einer Lebensgemeinschaft vereinten, die so schnell wieder zerbrach, hatte Kommissar Escherich schwere Zeiten hinter sich. Er hatte es verschmäht, seinem Vorgesetzten Prall zu verheimlichen, dass Enno Kluge seinen Beschattern so schnell wieder entronnen und, ohne eine Spur zu hinterlassen, im Meer der Großstadt untergetaucht war.
Kommissar Escherich hatte ergeben all die Beschimpfungen auf sich herabhageln lassen, die infolge dieses Geständnisses fällig waren: er war ein Idiot, er war ein Nichtskönner, man würde ihn einlochen, diese Schlafmütze, die es in fast einem Jahre nicht mal fertiggebracht hatte, einen blöden Postkartenschreiber zu ermitteln!
Und hatte er mal eine Spur, so ließ er den Kerl wieder laufen, Trottel, der er war! Eigentlich hatte Kommissar Escherich Beihilfe zum Hochverrat geleistet, und danach würde man auch mit ihm verfahren, wenn er nicht binnen heute und einer Woche diesen Enno Kluge dem Obergruppenführer Prall vorführte.
Ja, Kommissar Escherich hatte diese Beschimpfungen ergeben angehört. Aber sie hatten eine seltsame Wirkung auf ihn: trotzdem er doch genau wusste, dass dieser Enno Kluge nicht das Geringste mit den Postkarten zu tun hatte, dass er ihm nicht einen Schritt weiter auf dem Wege zur Feststellung des wirklichen Täters helfen konnte, trotzdem konzentrierte sich plötzlich das Interesse des Kommissars fast nur auf die Feststellung des kleinen, bedeutungslosen Enno Kluge. Es war doch auch wirklich zu ärgerlich, dass diese Wanze, mit der er seinen Vorgesetzten