Die kalte Braut. Stefan Bouxsein

Die kalte Braut - Stefan  Bouxsein


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dachte über die Struktur von Paulsen und Partner nach. Mit seiner Vielzahl von selbstständig auftretenden Unternehmens-, Vermögens- und Immobilienberatern hatte die Organisation von Paulsen tatsächlich Kontakte und Einflüsse in einer breiten Oberschicht der Gesellschaft. Was Timm erzählte, klang bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so weit hergeholt. »Was erwarten Sie nun von mir?«, fragte Siebels vorsichtig nach.

      »Sie ermitteln ganz normal weiter in Ihrem Fall. Versuchen Sie, den Mörder oder die Mörderin von Sven Müller zu überführen. Wenn Sie bei Ihren Ermittlungen aber auf Dinge stoßen, die mit der von mir eben geschilderten Sachlage in Verbindung stehen, dann berichten Sie ausschließlich an mich. Oder an Jeremy Boyle. Sie dürfen aber nicht in direkten Kontakt mit Jeremy treten. Wenn Sie mit ihm in Kontakt treten wollen, schreiben Sie eine E-Mail. Schreiben Sie nur Folgendes: Es muss mehr Holzkohle in den Grill.«

      »Es muss mehr Holzkohle in den Grill?«

      »Sehen Sie, Sie haben es sich schon gemerkt.« Timm reichte Siebels einen Zettel, auf dem zwei Hotmail-Adressen notiert waren.

      »Mit der oberen Adresse erreichen Sie Jeremy. Die untere ist Ihre eigene, die Sie ausschließlich in dieser Angelegenheit verwenden.«

      »Sehr konspirativ. Ich nehme an, Sie haben auch Zugriff auf die beiden Postfächer?«

      »Selbstverständlich. Sie sollten Jeremy nur kontaktieren, wenn Sie ihm etwas Wichtiges mitteilen müssen oder eine wichtige Information von ihm benötigen. Damit will ich sicherstellen, dass sich Ihre Ermittlungen nicht kontraproduktiv gegen den Verfassungsschutz richten. Wenn Jeremy eine E-Mail von Ihnen erhält, meldet er sich bei Ihnen. Mich können Sie jederzeit anrufen. Hier ist meine Karte. Und jetzt legen Sie bitte den Zettel mit den Hotmail-Adressen in den Aschenbecher und verbrennen ihn.«

      Siebels sah sich die Adressen noch einmal an, prägte sie sich ein und verbrannte den Zettel. »Verfolgt Paulsen konkrete politische Absichten mit seiner Organisation?«, wollte Siebels wissen.

      »Sein Ziel ist es, ein Netzwerk herzustellen, das ihm viel Macht verleiht. Das hat er mittlerweile erreicht. Er hat viele lose Fäden in der Hand, die er nach Belieben miteinander verknüpfen kann. Mit dem Heer seiner Berater kann er zum Beispiel in der Vermögensberatung in kurzer Zeit hohe Summen auf legalem Weg beschaffen und dieses Kapital über seine Immobilienschiene wieder investieren. Mit solchen Transaktionen lassen sich über viele unübersichtliche Verzweigungen schmutzige Gelder waschen und kriminelle Organisationen erhalten Zutritt zu ganz legalen Geschäften. Juristisch gesehen, wird er bei seinen Aktivitäten keine Straftaten begehen. Allerdings hat die Organisation auch das Ziel, die Gesetzgebung in ihrem Sinne mitzugestalten. Das geschieht durch Unterwanderung der betreffenden Gesellschaftsschichten. Neben Unternehmensführern suchen sie sich ihre Kunden auch mit Vorliebe in Juristen- und Politikerkreisen und betreiben dort aggressiven Lobbyismus.«

      »Und das funktioniert?«, fragte Siebels zweifelnd.

      »Das funktioniert leider sehr gut, weil die Kunden von Paulsen und Partner von den erbrachten Beratungsleistungen profitieren. Die Reichen werden noch reicher und sind zu Dank verpflichtet.«

      »Sind denn die ganzen Partner von Paulsen über das übergeordnete Ziel der Weltherrschaft im Bilde?«

      »Nein. Auf keinen Fall. Nur ein auserlesener Kreis wird nach und nach, je nach persönlicher und fachlicher Neigung, in die Geheimnisse von World Consulting eingeführt. In Deutschland sind es von den 80 Partnern schätzungsweise fünf, die von World Consulting Kenntnis haben. Jeremy gehört offiziell noch nicht dazu. Das wollen wir ändern. Der Grund, warum wir überhaupt einen Mann dort eingeschleust haben, liegt in der großen Geheimniskrämerei, die World Consulting betreibt. Offiziell gibt es keinerlei Hinweise, dass Paulsen und Partner ein Ableger von World Consulting ist. Das Gleiche gilt für die übrigen europäischen Ableger. Die europäischen Organisationen sind rechtlich völlig unabhängig. Und in den einzelnen Länderorganisationen sind die einzelnen Büros rechtlich unabhängig voneinander. Das macht die Sache für Außenstehende völlig undurchschaubar. Da wird ein weltweites Netz gesponnen, aber es bleibt unsichtbar. World Consulting ist in Europa völlig unbekannt und die Amerikaner tun alles dafür, dass das so bleibt. Trotzdem sind wir über die Vernetzung dieser Beratungsgesellschaft einigermaßen im Bilde. Der nächste Schritt von World Consulting ist die Vernetzung der europäischen Organisationen. Sie wollen gleichziehen mit der Europäischen Union, um auch hier die Politik übergeordnet beeinflussen zu können. Mit dieser Aufgabe wird auch ein europäischer Präsident für World Consulting benötigt. Paulsen ist einer der Kandidaten.«

      Siebels dachte über die Worte von Timm nach. Mit seinem einfachen Mordfall befand er sich plötzlich mitten im Weltgeschehen. Was Timm ihm da erzählte, klang beklemmend logisch. Trotzdem zweifelte er am Sinn der ganzen Geschichte.

      »Wie kann es sein, dass die vielen Partner von der Überorganisation keine Ahnung haben und doch in deren Sinne arbeiten?«

      »Dafür sorgt das Schulungszentrum von Paulsen. Dort wird den jungen Leuten eingebläut, wie sie ihren Job zu machen haben.«

      »Ich habe in diesem Zusammenhang auch schon das Wort Gehirnwäsche gehört«, gab Siebels zu.

      »So kann man es durchaus nennen. Paulsen sucht sich junge Leute mit guten Uniabschlüssen und überdurchschnittlichem Ehrgeiz. Dabei handelt es sich meist um Leute, die auch an Minderwertigkeitskomplexen leiden und das durch außergewöhnliche Leistungen zu kompensieren versuchen. Leute, die alles geben, um die Ziele zu erreichen, die ihnen vorgesetzt werden.«

      Siebels blätterte in seinen Notizen, die er bei seinem Gespräch mit Peter Bockelmann gemacht hatte. »Für das Schulungszentrum ist ein gewisser Jochen Trutz verantwortlich. Haben Sie zu dem auch Informationen?«

      Timm nickte und zündete sich eine neue Zigarette an. »Trutz ist in der Organisation ganz oben angesiedelt. Sein Lebenslauf ist beeindruckend. Er wurde 1958 in Hamburg geboren, verpflichtete sich nach dem Abitur bei der Bundeswehr und studierte dort Psychologie. Von 1992 bis 1994 war er Berater der obersten Heeresführung. Dann ging er in die freie Wirtschaft und verdingte sich bei einem großen Versicherungskonzern. Er baute einen Strukturvertrieb auf und befehligte unzählige selbst ernannte Vermögensberater, die den Leuten abends in deren Wohnzimmern Versicherungspolicen aufschwatzten. Zu diesem Zeitpunkt war der Strukturvertrieb bei Versicherungen schon ein gebrandmarktes Kind und die meisten Versicherungsgesellschaften haben sich von dieser unseriösen Vertriebsform getrennt. Aber Trutz hat sich noch zwei Jahre in diesem Geschäft behaupten können. Anschließend hat er das gleiche Geschäftsmodell benutzt, um die Produkte amerikanischer Unternehmen im deutschen Markt abzusetzen. Meistens ging es dabei um dubiose amerikanische Telefongesellschaften, die Telefonkarten für ihre Netze absetzen wollten. Diese Netze existierten oft nur theoretisch, mittlerweile spielen sie überhaupt keine Rolle mehr auf dem Markt. Trutz hat es trotzdem geschafft, damit mehrere Millionen Euro Umsatz zu erwirtschaften. Sein Erfolgsrezept bestand aus dem Aufbau von Verkäuferhierarchien und der Motivation dieser Verkäufer in den Hierarchiestufen. Die Leute in den obersten Stufen hatten nur die Aufgabe, weitere Verkäufer anzuwerben. Bei jedem Geschäftsabschluss wurde eine Provision fällig. Die Provisionen erwirtschafteten die unteren Hierarchiestufen, also unzählige Leute, die als Verkäufer für Trutz unterwegs waren. Die Provisionen wurden aber von unten nach oben aufgeteilt. Trutz stand immer an der Spitze der Pyramide und verdiente an jedem Geschäft mit. Die Verkäufer, die ganz unten in der Struktur standen, konnten durch ihre Geschäfte kaum Geld verdienen. Ihr Ziel war es, in der Hierarchie nach oben zu klettern, um dort an das große Geld zu gelangen. Trutz machte ein Vermögen mit diesem System und die Leute, die für ihn die Drecksarbeit machten, verehrten ihn wie einen Gott. Er war der Messias, der wusste, wie man aus Tellerwäschern Millionäre macht. Trutz war ein begnadeter Rhetoriker. Regelmäßig gab es Verkäuferveranstaltungen, bei denen Trutz vor Hunderten von Verkäufern seine berühmten Motivationsreden hielt. Der konnte den größten Mist erzählen, seine Jünger klebten an seinen Lippen und bejubelten ihn wie einen Popstar.«

      Siebels registrierte, dass die Aussagen von Timm über Trutz im Großen und Ganzen mit denen von Bockelmann übereinstimmten. Er bekam große Lust, diesen Trutz näher kennen zu lernen. »Wie kam Trutz dann zu Paulsen?«, wollte Siebels wissen.


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