Aus tiefem Schacht. Fedor von Zobeltitz

Aus tiefem Schacht - Fedor von  Zobeltitz


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bewohnte, war das freundlichste auf dem ganzen Baronshofe. Es lag im ersten Stockwerk, nach hinten hinaus, mit dem Ausblick auf den schönsten Teil des Parks, war groß, luftig und sonnig und mit dem bunten Komfort eines Backfischchens eingerichtet, das sich sein Heiligtum nach Möglichkeit hübsch zu machen sucht.

      Die ganze Seite einer Wand nahm ein breites, tannenes Büchergestell ein. Auf diese ihre Bücher war Hedda stolz. Es waren die Reste einer stattlichen Sammlung, die einst ihr Urgroßvater, einer der Generale des großen Friedrich, zusammengebracht hatte, meist französische Geschichts- und Memoirenwerke, in die sich Hedda in ihren freien Abendstunden zu vertiefen pflegte, ohne Kritik und mit kindlicher Naivität über die tollsten und albernsten Klatschgeschichten fortlesend. Zuweilen schaffte sie sich auch von ihren Ersparnissen einiges Neue an, aber sie hatte wenig Sinn für das Moderne; die Ritterromane Florians interessierten sie mehr als die Belletristik der Zeitgenossen.

      Hedda war müde. Den halben Tag über hatte sie im Hofe gewirtschaftet. Der Haushalt war nur klein, aber auch die wenigen Kühe, der Hühnerhof und der Gemüsegarten verlangten Pflege, und sie hatte nur zwei Mägde und einen alten Diener, der zugleich Knecht und Gärtner war, zur Hand. Sie hatte viel zu tun, um alles in Ordnung zu halten. Heute früh war sie schon vor fünf Uhr auf dem Posten gewesen; die „schwarze Marie“, ihre Lieblingskuh, hatte ein Kälbchen zur Welt gebracht, früher, als man erwartet, und darum hatte die Dörthe ihre Herrin so zeitig geweckt.

      Ja, sie war müde. Sie wollte ein wenig ausruhen. Das große Fenster auf der Südseite reichte mit seinen Glasscheiben nach italienischer Art bis auf den Fußboden und war draußen halb mannshoch mit Eisen umgittert. Es stand weit offen; schräg davor der Schreibtisch, sehr ordentlich gehalten, mit den Photographieen der verstorbenen Mutter und einiger Pensionsfreundinnen und einer Glasvase, die einen großen Buschen gelber Rosen enthielt. Hedda tauchte ihr Gesicht in die Rosen, atmete tief deren Duft ein und ließ sich dann in den mit licht geblümtem Cretonne überzogenen Lehnstuhl fallen.

      Herrgott, war sie müde! Das kam nicht oft vor. Mit blinzelnden, halb geschlossenen Augen schaute sie auf den Park hinaus. Die Glut der Nachmittagssonne brütete über den Wipfeln der Bäume. Kein Windhauch ging. Auf dem fahlgrünen Rasenfleck dicht unter dem Fenster stand ein geborstener Sandsteinpfeiler mit einer Marmorplatte, auf der eine Sonnenuhr eingraviert war. Jetzt gluckte ein dickes, weißes Huhn darauf und schlief. Weiter hinten schimmerten helle Silbereschen durch das dunkle Grün der Buchen; dort senkte sich mählich das Blättermeer. Der Park fiel zum Tale ab; ein Zaun aus Eichenholz umgab ihn hier. Vom Fenster aus konnte man über Wiesen und Felder sehen. Alles war in bester Kultur; der Kommerzienrat besaß eine tätige Hand. Die Ernte stand vor der Tür; das gelbe Getreide zitterte in der Sonne.

      Ein breiter, staubgrauer Landweg durchschnitt das Gelände. Dort rollte ein offener Wagen daher, der Hedda aufmerksam werden ließ. Sie stand auf, trat dicht an das Fenstergitter und spähte scharf in die Ferne.

      Wahrhaftig, sie täuschte sich nicht: es war der Wagen Schellheims, – der Kommerzienrat, der erst vor wenigen Tagen aus Karlsbad zurückgekehrt war, wollte auf dem Baronshof seinen Besuch machen.

      Das war zu erwarten gewesen. Trotzdem fürchtete sich Hedda ein wenig davor. Ihr Vater konnte den Mann nicht leiden; man durfte kaum dessen Namen in seiner Gegenwart nennen. Es war lächerlich – Hedda nahm in dieser Beziehung dem alten Herrn gegenüber kein Blatt vor den Mund –, aber mit der Tatsache mußte gerechnet werden. Es galt, den Vater vorzubereiten.

      Sie warf einen Blick in den Spiegel, ordnete hastig ihr Haar und eilte dann flinken Fußes in das Erdgeschoß hinab.

      Der Baron saß bei der Arbeit – in einem großen, kahlen, gewölbten Gemach, vor einem riesenhaften Tische aus weißem Tannenholz, in dessen Platte ein Halbkreis eingeschnitten war, in den der Lehnsessel Hellsterns weit hineingeschoben wurde, wenn der Alte Platz nehmen wollte. Hellstern litt seit einigen Jahren an periodisch wiederkehrender Ischias, die ihm die Bewegung erschwerte. Er hatte sich deshalb den merkwürdigen Tisch bauen lassen, in dessen Ausschnitt er saß, ringsum von Bergen uralter Akten, Folianten und Pergamentrollen umgeben, vor sich ein Buch Papier, dessen einzelne Blätter er mit großen, groben Schriftzügen bedeckte.

      Baron Hellstern war ein Sechziger mit rotbraunem, gesundem Gesicht, kurz geschorenem weißem Haar und langem, grauem Vollbart. Augenblicklich trug er eine Brille; dunkelblaue, sehr klare Augen blickten durch ihre Gläser. Trotz mäßigen Lebens und vieler, erst in letzter Zeit durch sein Leiden beeinträchtigter Bewegung hatte er schon frühzeitig das leibliche Erbe der männlichen Hellsterns übernehmen müssen: eine lästige Korpulenz. Der Baron war, wenn er aufrecht stand, eine kolossale Erscheinung – sehr groß, mit der Schulterbreite eines Enaksohns und falstaffischem Leibesumfang. In früherer Zeit hatte man Wunderdinge von seiner Körperkraft erzählt; jetzt nagte der Wurm an der nordischen Eiche.

      Er arbeitete. Seit er die Landwirtschaft aufgegeben, hatte er sich mit Leidenschaft auf ein andres Steckenpferd geworfen. Er schrieb im Auftrage eines Lehnsvetters, seines letzten männlichen Verwandten von der schwedischen Linie der Familie, an einer Chronik seines Geschlechts.

      Schon als junger Offizier, als sein Vater noch lebte und den Baronshof bewirtschaftete, hatte er sich lebhaft für die Familiengeschichte interessiert und an Quellen dafür zusammengebracht, was er nur fand. Nach dem Verkauf seiner Ländereien begann ihn die Langweile zu packen; anfänglich nur, um seine Mußestunden auszufüllen, ging er an das Sichten und Ordnen des im Laufe der Zeit gewaltig angewachsenen Materials. Die lateinischen Codices übersetzte ihm der Pastor, bei den französischen und schwedischen Schriftstücken half ihm Hedda. Die Hellsterns oder Hellstjerns, wie sie sich ehemals schrieben, waren allerdings schwedischer Abstammung, aber seit dem Großen Kurfürsten seßhaft in der Mark. Mit den Wrangels und Sparres und Crusenstolpes waren sie dazumal nach dem Brandenburgischen gekommen. Und in der Dauer dreier Jahrhunderte hatten sie ihre Muttersprache vergessen. Nun lernten die beiden letzten Abkömmlinge jenes ersten Hellstjern, der unter dem brandenburgischen Roten Adler gedient hatte, aus Liebe zu ihrem Geschlecht noch nachträglich die einschmeichelnd klingende, melodiöse Sprache der Ahnen. Sie lernten tapfer – Hedda sowohl wie der alte Brummbär, ihr Vater, dessen Ausdauer und Zähigkeit gleich bewunderungswürdig waren wie sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Akten vergangener Jahrhunderte, Ritter- und Lehnsbriefe mit ihrem antiquierten Schwedisch, machten ihnen unendlich viel Mühe; aber sie rangen sich durch und freuten sich wie die Kinder, wenn sie wieder einmal einen Berg staubiger Faszikel bewältigt hatten.

      Eines Tages war der Baron auf einen guten Gedanken gekommen. Das vorhandene Material genügte ihm noch nicht. Da fiel ihm ein, daß im Freiherrnkalender neben seinem Namen noch ein andrer stand, der folgendermaßen lautete: Axel Freiherr von Hellstjern, geboren 18. Juni 1865 (Sohn des Geheimen Konferenzrats Frederik Jasper v. H., Gesandten zu Kopenhagen, dann in Paris, und der Leontine, Gräfin von Hetfried), Königl. schwed. Kammerjunker, Erbherr auf Jarlsberg, Valö und Brennwolde.... Dieser junge Mann war der letzte Hellstjern von der schwedischen Linie, wie der Besitzer des Baronshofs der letzte der märkischen Linie war. Jarlsberg – das wußte der Baron – hieß das uralte Stammschloß des Geschlechts; es lag hoch oben an der Felsküste Schwedens, von weißem Meeresgischt umspült, ein Denkmal aus grauer Zeit, da man mit der Baronskrone auf dem blonden Haupt noch ungestraft seeräubern konnte. In den Archiven der Burg schlummerte vielleicht auch noch mancher litterarische Schatz, der für die Geschichte des aussterbenden Hauses von Wichtigkeit war.... Der Freiherr schrieb an den jungen Vetter. Lange blieb die Antwort aus. Dann trafen große Kisten ein, mit Büchern, Papieren und Dokumenten bis obenhin vollgestopft, und dazu ein liebenswürdiger Brief des Herrn Axel: er habe alles zusammengesucht, was er im Interesse der Chronik habe auftreiben können, und stelle es dem werten Herrn Vetter mit Freuden zur Verfügung. Ja, noch mehr: er nehme selbst einen so großen Anteil an der Familiengeschichte, daß er den Herrn Vetter bitte, irgend eine geeignete Kraft ausfindig zu machen, die jene Chronik zu Ehren des Hauses Hellstjern verfassen könne. Gern willige er in ein Honorar von zehntausend deutschen Reichsmark.

      Das konnte der Axel von Jarlsberg, denn er war ungeheuer reich. Und nun gedachte der Baron, sich jene Summe selbst zu verdienen. Er hätte sich unter andern Verhältnissen sicher gegen die „Soldschreiberei“ gesträubt, aber der Gedanke an Hedda und ihre Zukunft unterdrückte seinen törichten Stolz. Zudem


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