Diese Deutschen. Dietmar Krug
Institution erlebt, mit einem Chef, der keineswegs das war, was man hierzulande ein »Lulu« nennt, sonst hätte er seinen Job nie gekriegt. In seinem Projektteam befand sich eine Mitarbeiterin, die ein ausgeprägtes Schonungsbedürfnis an den Tag legte. Das äußerte sich nicht zuletzt in einer Vielzahl prophylaktischer Krankenstände, sodass der Chef ihr irgendwann riet, es doch einmal mit einer Kur zu probieren. Sie nahm den Rat dankbar an. Als kurz vor der Kur die Frequenz ihrer Krankenstände noch einmal kräftig anstieg, war der Bogen spürbar überspannt. Der Chef reagierte nur noch mit Schnaufen und Augenverdrehen, wenn sie wieder einmal über ihre Gebrechen seufzte.
In einer Teamsitzung eskalierte es schließlich auf gut Österreichisch. Als die Kollegin vor versammelter Runde den Termin für die bewilligte Kur mitteilte, begann der Chef auf seinem Sessel hin und her zu rutschen und meinte schließlich: »Aber am Tag danach wird sofort wieder gearbeitet!« Die Kollegin wirkte leicht irritiert und entgegnete: »Selbstverständlich, ich brauche danach höchstens noch zwei, drei Tage zu Hause, zur Akklimatisierung.« Alle im Raum zogen die Schultern hoch in der Erwartung eines Gewitters. Der Chef schnaufte, bekam große Augen. Doch alles, was folgte, war ein Senken des Kopfes, begleitet von einer abgrundtief resignierten Handbewegung.
»Setzen, sechs!«
Wer in Österreich auf eine Schularbeit einen Fünfer bekommt, der ist beschmutzt. Er hat einen »Fleck« davongetragen. Immerhin, einen Fleck kann man bedecken oder wegrubbeln. Die Deutschen kennen noch eine Steigerungsstufe zum Fleck: die Sechs, das »Ungenügend«, das es im österreichischen Schulkosmos nicht gibt. Ein Sechserkandidat ist ein hoffnungsloser Fall: »Setzen, sechs!«
In meinen ersten Jahren in Österreich hat mir eine Wiener Freundin einmal eine Deutschschularbeit ihrer fünfzehnjährigen Tochter gezeigt, einen Aufsatz über ein Meinungsthema. Es war eine gute Arbeit, engagiert, mit Verve argumentiert, manchmal auch witzig. Das Ergebnis: Fleck. Begründung: acht Rechtschreib- bzw. Beistrichfehler. Zum Inhalt keinen Kommentar.
Als Kind der deutschen Reformpädagogik der Siebzigerjahre war ich entsprechend entgeistert. Ein Lehrer darf eine Fünf geben, egal, ob der Inhalt gescheit ist oder dumm? Eine derart absolute und plumpe Dominanz der Form über den Inhalt hätte zu meiner Schulzeit Eltern wie Schüler auf die Barrikaden getrieben. Wie ist es möglich, dass man sich hierzulande dieses k. u. k. Relikt aus den Zeiten des Rohrstock-Formalismus so lange hat gefallen lassen? Vom Lehrplan war so etwas längst nicht mehr gedeckt. Es musste doch jedem klar sein, dass man auf diese Weise einem Schüler mit wackliger Rechtschreibung jede Motivation nimmt, noch einmal einen anspruchsvollen Gedanken zu formulieren. Es ist die sicherste Methode zur Hervorbringung denkfauler Schüler – und Lehrer.
In meiner Studienzeit habe ich mich als Nachmittagsbetreuer an einer Wiener Schule beworben. Mein Job hätte darin bestanden, darauf zu achten, dass die Kids ihre Nase in die Schulhefte stecken. Ich musste dafür beim Stadtschulrat vorsprechen, einem Hofrat. Der wollte einiges von mir wissen, nicht etwa, was ich studiere, sondern ob ich eine Freundin hätte und plane, in Österreich zu bleiben. Dann führte er mich in einen Nebenraum und sagte zu einem Mitarbeiter: »Rudi, hier haben wir einen bundesdeutschen Studenten, der vorhat, in Österreich zu ehelichen.« Davon war zwar keine Rede gewesen, aber Herr Rudi trug mich freudig in eine Liste ein und rief mich nie zurück.
Bald darauf erfuhr ich, dass es rote und schwarze Schulen gibt und dass ein Direktor entsprechend getüncht sein muss, um an seinen Job zu kommen. Tünche reicht völlig, der Rest ist Formsache.
Die Schule ist offenbar jener Bereich der österreichischen Gesellschaft, auf den die Bürger am wenigsten Einfluss zu haben glauben, ein Raum der machtvollen Äußerlichkeiten, geschützt vor dem Zugriff der Zivilgesellschaft. Kein Wunder, dass bisher jede Reform im Sande verlaufen ist.
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